Der sächsische Untersuchungsausschuss zum NSU ist beendet. Die Regierungsparteien sehen keine Schuld bei den Behörden des Freistaates. Dagegen zählt der rot-rot-grüne Gegenbericht eine beispiellose Serie von Fehlentscheidungen auf, der Vorwurf: Behördenversagen.
Nur eine Minderheit wollte Aufklärung
Der Nationalsozialistische Untergrund zeigt, „dass die Strukturen der Sicherheitsbehörden auf Bundes- und Landesebene dringend überprüft werden müssen.“ Darin, und das ist sehr viel, waren sich die demokratischen Fraktionen des Sächsischen Landtages im November 2011 einig. Die seltene Einigkeit, ganz kurz nach der Selbstenttarnung des NSU, war ein klassischer Fall von Symbolpolitik. Und sie hielt nur vor, bis tatsächlich ein Untersuchungsausschuss eingesetzt werden sollte.
CDU und FDP haben das Gremium rundweg abgelehnt, es im Landtagsplenum als „NPD-Informationsausschuss“ hingestellt.
Damit versteckten sich CDU und FDP ausgerechnet hinter der nazistischen Partei, deren früherer Funktionär Ralf Wohlleben zusammen mit Beate Zschäpe und anderen wegen der Taten des NSU angeklagt ist. Das war im März 2012 – in Thüringen und dem Bund lief die Aufklärung auf Hochtouren, die Einrichtung von Untersuchungsausschüssen waren dort Konsens. Sachsen zierte sich, hier kam der Ausschuss lediglich mit den Stimmen von Linksfraktion, SPD und Grünen zustande.
NSU gleich RAF?
Kurze Zeit später lieferte der sächsische „Verfassungsschutz“ den Abgeordneten völlig unaufgefordert ein geheimes Dokument, aus dem die im Untersuchungsausschuss vertretene NPD entnehmen konnte, wie viele V-Leute in ihrem Landesverband sitzen. So torpedierte man die Aufklärung, indem man die Behauptung vom „NPD-Informationsausschuss“ einfach selber wahr machte. Im Fachjargon der Dienste heißt das „Obstruktion“. Das ändert nichts an der Lächerlichkeit und blieb nicht die einzige Sumpfblüte, die so zahlreich sonst nur im Sachsensumpf-Skandal zu finden sind.
Nun, zum Abschluss des NSU-Ausschusses, haben CDU und FDP einen äußerst schmalen Bericht vorgelegt. Der Gegenbericht von Linksfraktion, SPD und Grünen ist um ein Vielfaches dicker. Die einen loben sächsische Behörden über den Klee, die anderen sehen weitgehenden Reformbedarf, bis hin zur parlamentarischen Kontrolle des polizeilichen Staats- und zur Abschaffung des sächsischen „Verfassungsschutzes“. Die einen sagen ernstlich, man müsse den NSU überwinden, wie man einst die RAF überstanden hat. Die anderen haben so viele offene Fragen, dass sie nach der Landtagswahl ein neues Gremium zur Fortsetzung der Aufklärung einsetzen wollen.
Am Montag wird die Opposition ihre 350-seitige Dokumentation in Dresden präsentieren. Sie ist keine Abrechnung, sondern wohltuend sachlich gehalten und schreibt in manchen Kapiteln fort, was der Bundestagsausschuss schon angerissen hatte. Doch die schiere Masse der Fehler, die aufgedeckt werden, stellt sächsischen Behörden ein alarmierend schlechtes Zeugnis aus.
„Behördenversagen in mehreren Bereichen“
Die parlamentarische Aufklärung ist in Sachsen binnen zwei Jahren so weit gekommen, 34 Zeugen zu befragen, zumeist Kriminalisten, Geheimdienstler, einen ehemaligen und den aktuellen Innenminister. Genügt hat das nicht, meint die Opposition. Mehr als 80 weitere Zeugen waren noch vorgesehen. Was bisher zusammengetragen wurde, deutet auf ein „Behördenversagen in mehreren Bereichen“, so der rot-rot-grüne Bericht: Er fasst detailliert zusammen, was sächsische Behörden unternommen und unterlassen haben, um die Anfang 1998 in Jena untergetauchten Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe zu schnappen.
Nunmehr ist klar, dass sehr zeitnah Informationen vorlagen, wo sich das Trio verbergen könnte. Mehrere sächsische Polizeieinheiten beteiligten sich an Suchaktionen, der „Verfassungsschutz“ war nah dran. Der bessere der NSU-Berichte legt die unbequeme und bislang nicht zu beantwortende Frage nahe, warum das Trio dennoch nicht verhaftet wurde, auch wenn das in Chemnitz möglich gewesen wäre.
Denn schon kurz nach dem Untertauchen gingen Zielfahnder des Thüringer LKA davon aus, dass sich das Trio in Chemnitz versteckt hält. Bereits im Sommer 1998 waren wichtige Fluchthelfer und Quartiermacher aus Sachsen namentlich bekannt, die, so berichtete ein V-Mann obendrein, für die Gesinnungsgenossen aus Jena Waffen besorgen wollen. An der Stelle unterscheidet sich der Fall dreier bundesweit gesuchter Bombenbastler von jedem erdenklichen Krimi. In der Wirklichkeit entschieden sich die Fahnder nämlich zum Nichtstun.
Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe konnte sich deshalb in Chemnitz gefahrlos bewegen, mehrere frühere „Kameraden“ des Trios haben das beim BKA bestätigt. Das ist plausibel, denn nach Erkenntnissen des Ausschusses wurde gegen alle Standards kein Fahndungsdruck aufgebaut.
Beweise vor den Augen der Polizei vernichtet
Das Nichtstun wird unerklärlich, wo es sich wiederholt. In allen schillernden Details schildert der NSU-Bericht, wie man zwischen Frühjahr und Herbst 2000 schließlich in enger Zusammenarbeit von Polizei und „Verfassungsschutz“ aus Thüringen und Sachsen Observationen in Chemnitz anberaumte und auf Anhieb einen fabelhaften Volltreffer landete. Kaum hatten die Observationsteams vor dem Haus der mutmaßlichen NSU-Unterstützerin Mandy Struck Stellung bezogen, da tauchte eine Person auf, die Böhnhardt zum verwechseln ähnlich sieht. Für genau diesen Fall stand ein Sondereinsatzkommando bereit.
Man ließ es nicht anrücken, ging stattdessen in qualifiziertes Abwarten über, das Monate anhalten sollte. Schließlich, im Oktober 2000, wurde der damalige Partner von Mandy Struck angesprochen. Er konnte den Beamten – so weit sie sich heute daran entsinnen mögen – nicht helfen. Die Beamten wiederum schritten nicht ein, als der Mann daraufhin Unterlagen unter den Arm packte, zu seiner Garage spazierte, dort einen Grill aufbaute und zwanzig Minuten lang ungehindert Unterlagen verbrannte.
Danach hat man nicht mehr abgewartet – sondern ganz hingeschmissen. Der „Verfassungsschutz“ war plötzlich nicht mehr am Fall interessiert, die Zielfahndung der Polizei wurde abgebrochen. Die Haftbefehle blieben noch jahrelang offen, es gab nur niemanden mehr, der das Trio tatsächlich gesucht hätte. Ein hochrangiger sächsischer „Verfassungsschützer“ gab im Untersuchungsausschuss zu, dass er Jahre später von der Verjährung der Taten, wegen denen das Trio untergetaucht war, nur rein zufällig erfuhr. Das stand nämlich in einer Antifazeitschrift.
Vollständig unbekannte Ermittlungslinien
Der NSU-Bericht wirft neben dem unerklärten Desinteresse am Fall eine weitere Frage auf. Denn wenn damals doch Informationen nachgegangen wurde – warum waren sie so erstaunlich präzise? Die in den Jahren 1998 und 2000 in Chemnitz überwachten Nazis hatten, so stellt es sich heute dar, tatsächlich mit dem Trio zu tun. Auch einige Adressen, an denen sich das Trio zeitweise aufhielt, fielen keineswegs durchs Fahndungsraster. Es muss ein solides, gut informiertes Raster gewesen sein.
Entweder, „Kommissar Zufall“ hat Überschichten geschoben. Oder die Vermutung der Opposition trifft zu. Sie wertet die neuen Erkenntnisse insgesamt als Hinweise, „dass es bei der damaligen Suche nach dem Trio entscheidende Fahndungsmaßnahmen, Ermittlungslinien oder sonstige Erkenntnisquellen gegeben haben muss, die eindeutig auf den Freistaat Sachsen bezogen waren, aber nach wie vor vollständig unbekannt sind und sich daher nach wie vor keiner Behörde zurechnen lassen.“
Zu der Frage, wie man damals rasch auf Chemnitz kam und dort sogleich in die räumliche und sogar persönliche Nähe des Trios vordringen konnte, haben die Abgeordneten im Landtag weder Akten gefunden, noch Erinnerungen von Zeugen wecken können. Freunde des Rechtsstaates mag das irritieren, aber angesichts ähnlicher Erkenntnisse in anderen Ausschüssen darf rückblickend von gut informiertem Desinteresse und für die Gegenwart von gut organisiertem Gedächtnisverlust ausgegangen werden. Schuld will niemand haben.
Nichts von Rechtsterrorismus gewusst?
Doch Zeugen sind nicht immer überzeugend. Beamte des LKA Berlin, die wiederholt nach Dresden vorgeladen waren, verstrickten sich auf beharrliches Nachfragen zu den von ihnen in Sachsen angeworbenen „Vertrauenspersonen“ in Widersprüche. „Sollte sich durch Zufall ein pflichtbewusster Staatsanwalt in die öffentlichen Ausschusssitzungen verlaufen, so hätte er reichlich Anlass, von Amts wegen Ermittlungen wegen Falschaussage anzustrengen“, kommentierte das Neue Deutschland süffisant.
Die Gefahr des Verlaufens bestand zwar nicht, überhaupt waren die Ausschusssitzungen schlecht besucht. Aber ermittelt wird nun durchaus, pikanterweise gegen die früheren sächsischen „Verfassungsschutz“-Köpfe Reinhard Boos und Olaf Vahrenhold. Sie hatten im Ausschuss ausdrücklich beteuert, ihre Behörde habe nichts von den rechtsterroristischen Aktivitäten des Trios gewusst. In ihren öffentlichen Jahresberichten notierten sie immer wieder: Rechtsterrorismus gibt es nicht.
Die Abgeordneten stießen allerdings auf zwei betagte und keineswegs öffentliche LfV-Dokumente aus den Jahren 1998 und 2000, in denen das blanke Gegenteil geschrieben steht. Der Oppositionsbericht vermutet eine Falschaussage, sieht „strafrechtliche Relevanz“, Ausgang offen.
Akten sind verschwunden
Bereits wegen “Unaufklärbarkeit” eingestellt wurden dagegen die Ermittlungen zum Verbleib einer Ermittlungsakte, die zum allerersten bekannten NSU-Raubüberfall auf einen örtlichen Supermarkt im Dezember 1998 bei der Staatsanwaltschaft Chemnitz geführt wurde. Der Untersuchungsausschuss bekam die Akte nicht zu Gesicht, denn sie ging schon vor Jahren durch den Reißwolf. Eigentlich hätte sie bis 2020 aufbewahrt werden müssen, zumal es sich nicht um ein Kavaliersdelikt handelte. Die damals unerkannt gebliebenen Täter hatten einen Edeka-Markt ausgeraubt und bei der Flucht scharfe Pistolenschüsse auf einen jungen Mann abgegeben. Die Schützen könnten Mundlos und Böhnhardt gewesen sein. Die Kugeln flogen auf Kopfhöhe.
Ermittelt wurde damals gegen Unbekannt, und das auch nur wegen räuberischer Erpressung. Die Bundesanwaltschaft wertet den Fall heute als Mordversuch, wird ihn aber kaum mehr aufklären können. Die damals verwendete Schusswaffe ist nie wieder aufgetaucht. Es gibt zwar passende Patronenhülsen, die in der letzten NSU-Unterkunft in Zwickau gefunden wurden. Das sind im aktuellen Münchner Prozess aber auch die einzigen Asservate zu jenem Coup, mit dem der NSU begann. Einziges Zeugnis zum Tatablauf ist ein fünfzehn Jahre alter Kurzbeitrag bei „Kripo live“.
Das ist nicht der einzige Fall, in dem Unterlagen abhanden kamen. So gingen ebenfalls bei der Staatsanwaltschaft Chemnitz weitere Akten zu älteren Ermittlungsverfahren gegen Uwe Mundlos sowie den mutmaßlichen NSU-Helfer und ehemaligen „Blood & Honour“-Chef Jan Werner verloren. Ein „Hochwasserschaden“ sei eingetreten, heißt es, doch nachprüfbar ist das nicht. LINKE, SPD und Grüne hegen deshalb Zweifel, ob dem Ausschuss wirklich alle relevanten Akten vorgelegt wurden.
Üblicher Irrsinn, keine Verschwörung
Die Zweifel sind berechtigt. Noch nachdem der Ausschuss seine Arbeit aufgenommen hatte, liefen die turnusmäßigen Aktenvernichtungen beim LfV Sachsen drei Monate weiter, als wäre nichts geschehen. Währenddessen purzelten vorher unbekannte Akten aus dem (so wird es offiziell beschrieben) „toten Winkel“ eines Stahlschranks im LfV.
Wie es der Zufall will, behandeln diese Akten sowohl die untergetauchten Nazis, als auch ihre mutmaßlichen Helfer aus Sachsen. Das waren vielfach „Blood & Honour“-Leute wie Jan Werner. Eisern hielt das Amt dagegen dicht zu ihrem eigenen V-Mann im B&H-Netzwerk, Deckname: „Bastei“.
Der war nicht allein: Werners damalige rechte Hand, Thomas Müller (damals: Starke), der bereits Ende 1996 Sprengstoff nach Jena brachte, eine Affäre mit Zschäpe hatte und dem Trio zumindest 1998 mehrfach Unterkünfte in Chemnitz vermittelt haben soll, stand ab dem Jahr 2000 als „Vertrauensperson“ im Sold des LKA Berlin. Gegenüber den Beamten aus der Hauptstadt berichtete er sogar mehrfach über das untergetauchte Trio.
Seine V-Mann-Führer aus Berlin mochten sich daran, wie gesagt, nicht so recht entsinnen. Ein Rätsel bleibt somit, warum sie die Informationen ihrer „Quelle“ für sich behielten. Eine Verschwörung, das muss man dazusagen, ist bei alledem nicht in Sicht. Es handelt sich um eine völlig übliche Arbeitsweise in der Spitzelbranche. Etwas Vernünftiges kann daraus nicht entstehen.
Dienelt alias Eminger alias Zschäpe
Davon zeugt der so genannte „Werbungsfall“ zu André Eminger, dem mutmaßlichen NSU-Helfer aus Zwickau. Das LfV Sachsen wollte ihn einmal als V-Mann verpflichten, die „Zielperson“ winkte jedoch ab und erklärte, aus der Szene ausgestiegen zu sein. Die Schlapphüte glaubten das, seine lange Haartracht hielten die Geheimdienstprofis aus Dresden für einen plausiblen Beleg. Der Untersuchungsausschuss hat allerdings erfahren, dass man sich für Eminger noch jahrelang „dienstlich“ interessierte – angeblich ohne etwas vom NSU und ohne von Emingers Unterstützung für die Rechtsterroristen geahnt zu haben, wegen der sich der Zwickauer derzeit in München vor Gericht verantworten muss.
Mit Emingers Hilfe soll das Trio unter anderem von 2001 bis 2008 in der Zwickauer Polenzstraße untergekommen sein. Dort kam es im Dezember 2006 zu einem Wasserschaden genau über der NSU-Wohnung, offenbar mutwillig herbeigeführt, jedoch nie aufgeklärt. Die Polizei nahm den Fall auf, ein Nachbarsjunge stand unter Verdacht. Die Polizei vernahm auch eine spezielle Bewohnerin des Hauses. Sie war dort als „Lisa Dienelt“ bekannt, stellte sich aber den Beamten, denen das keineswegs seltsam erschien, als „Susann Eminger“ vor.
„Verfassungsschutz“ ganz in der Nähe
Tatsächlich, so wird heute angenommen, sprachen die Beamten damals mit Beate Zschäpe. Sie sprachen auch mit ihrem „Ehemann“, André Eminger – vermutlich war es der Echte. Als der Wasserschaden auftrat, so gaben damalige Anwohner der Polenzstraße zu Protokoll, war André Eminger im Haus. Die Überraschung: Das LfV Sachsen hat Eminger, warum auch immer, zur selben Zeit observiert – aber angeblich nichts von der klandestinen Unterkunft in Zwickau erfahren. Das Protokoll der Beobachtung wird geheim gehalten.
Es ist noch nicht einmal bekannt, woher das akute Interesse des Geheimdienstes an Eminger zu dieser Zeit rührte. Das LfV behauptet, der Zwickauer Staatsschutz habe damals auf Emingers herausgehobene Rolle in der Szene hingewiesen. Die Polizisten bestreiten das vehement.
Einer lügt. So bleibt der Verdacht bestehen, dass sächsische Behörden, die sonst nur durch Abwarten auffielen, insgeheim viel mehr wussten, als sie heute zugeben. Ein Umstand, der in der Tat „dringend überprüft werden“ muss. Der sächsische Untersuchungsausschuss, der nun zum Abschluss kam, kann nichts anderes sein als der Vorspann des nächsten.
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Text zugesandt von: anonym.