Veranstaltungsreihe zu Antimilitarismus und Internationalismus
Mit einer antimilitaristischen und internationalistischen Veranstaltungsreihe im Herbst 2022 luden wir zu einer fortgesetzten kritischen Auseinandersetzung mit brennenden Fragen unserer Zeit ein: Wer profitiert von Kriegen, Aufrüstung und Waffenexporten? Wie verhalten sich linke Bewegungen, wenn das „Vaterland“ zum Kampf ruft? Welche Tugenden verlangt der Militarismus und was bedarf es, um NEIN zu sagen? Welche Folgen haben deutsche Waffen für globale Konflikte und das Leben einzelner Menschen? Welche Spuren lassen sich verfolgen?
Hier findet ihr unser 8-seitiges Veranstaltungsfaltblatt als pdf-Datei.
Antimilitarist*innen, Kriegsgegner*innen oder Pazifist*innen haben es in dieser Zeit schwer, beharrlich zu bleiben und ihre Standpunkte öffentlich zu vertreten. Aufhetzerische Anfeindungen sollen kritische Stimmen zu den Ursachen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, alternative Strategien der internationalen Konfliktlösung oder zu den Folgen der enthemmten Militarisierung in Deutschland zum Schweigen bringen. Auch an der diskursiven Heimatfront in Deutschland soll im Gleichschritt marschiert werden. Die Verschiebungen dessen, was in den Fragen von Krieg und Frieden links ist, wurde ein weiteres Mal massiv verschoben. Verunsicherungen, Kriegsbegeisterung und die Freude am Nationalfahne-Zeigen sind erneut bis weit in die Linke eingebrochen.
Als feministische und internationalistische Antifagruppe setzen wir uns mit Widersprüchen, Analysen und Handlungsmöglichkeiten auseinander. Unser Konsens: der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist ein Verbrechen. Er hat schreckliche unmittelbare Folgen für die Menschen in der Ukraine. Er entfesselt in der Ukraine, in Russland und in vielen Gesellschaften reaktionäre Dynamiken: Nationalismus, Rassismus und männliche Tugenden brechen sich Bahn. Uniformen überall – auch in Deutschland. Hier in Deutschland sehen wir auch unsere Verantwortung und unseren Aufgabenbereich. Schamlos werden Überprofite aus Krieg und Krise privatisiert, während Kitas, Pflege und Gesundheit am Rande des Zusammenbruchs stehen. Gegen diesen Klassenkampf von Oben; gegen Neonazis in der Bundeswehr und gegen Waffen made in Germany richtet sich unser Widerstand.
Wir betreiben Spurensuche und setzen uns mit dem historischen antifaschistischen Widerstand auseinander. Die Erfahrungen der alten Antifaschist*innen sind uns Mahnung und Auftrag. Einen Schwerpunkt setzen wir auf die Handlung des Desertierens; sich individuell dem Kriegsdienst zu entziehen. Wir beschäftigen uns mit den Lebensgeschichten von Deserteuren in Göttingen und Kassel. Ihre Namen und Biografien machen wir im Stadtbild sichtbar – wir schleifen die Kriegerdenkmäler, die den „Tod für Kaiser, Führer und Vaterland als süß und ehrenvoll“ verklären.
Wir verbünden uns mit der alten Friedensbewegung und gehen seit März 2022 beharrlich zusammen auf die Straße. Wir reden an Infoständen, bei Open-Air-Ausstellungen und bei Kundgebungen mit den Menschen; wir argumentieren; wir schaffen Gegenöffentlichkeit.
Wir arbeiten am Aufbau einer neuen Antikriegsbewegung. Gemeinsam mit hunderten Genoss*innen der bundesweiten Kampagne „Rheinmetall entwaffnen!“ haben wir im August und September 2022 eine Woche lang in Kassel gecampt, demonstriert und Aktionen gemacht. Wir diskutieren und ermutigen uns. Wir gestalten den öffentlichen Raum um; wir blockieren die Panzerfabriken in unserer Nachbarschaft. Wir überschreiten Grenzen und müssen aushalten, wie begrenzt unsere Mittel derzeit sind.
Wir lernen von Genoss*innen aus anderen Ländern. Vom Befreiungskampf der kurdischen Linken. Seit Jahrzehnten verfolgt diese ein progressives Projekt und kämpft in Rojava für Frauenbefreiung, Basisdemokratie und Ökologie. Dafür wird die kurdische Bevölkerung vom NATO-Land Türkei mit Krieg überzogen. Die Waffen liefert Deutschland. Auch von iranischen Genoss*innen erfahren wir von ihren Siegen und Niederlagen und welche Schlüsse sie daraus für die Kämpfe der Gegenwart ziehen.
Die Veranstaltung „Desertieren! Damals, gestern, heute. Wir verweigern uns dem Krieg!“ haben wir gemeinsam mit iranischen Genossen als Workshop während des „Rheinmetall entwaffnen!“-Camps in Kassel angeboten. Gemeinsam diskutieren wir nun unsere unterschiedlichen Perspektiven auf Krieg und Desertieren auch in Göttingen für Interessierte und Veranstaltungsbesucher*innen.
Der antimilitaristische Stadtrundgang sucht Orte des Lebens und Gedenkens von Göttingern, die in der Vergangenheit desertiert sind, auf. Im Mittelpunkt steht dabei Ernst Fischer, ein junger Kommunist und Antifaschist, der von den Nazis wegen „Fahnenflucht und Landesverrat“ am 2. Februar 1940 hingerichtet wurde.
Während der Blockade des Werkstores der Panzerfabrik von Rheinmetall im August 2020 in Kassel lernten wir Ali Fathi aus Hamburg kennen. Inmitten der Blockaden drehte Ali Fathi für seinen Dokumentarfilm. Eine Gruppe junger Iraner*innen hat sich seither zusammengefunden und bringt die persönliche, berührende und aussagestarke Geschichte Ali Fatihs‘ als Performance-Theater „Splitter im Exil. Made in Germany“ (Gruppe Drang aus Berlin) auf die Bühne.
Veranstaltung, Stadtrundgang, Performance-Theater und Lesung finden in Zusammenarbeit mit dem Verein zur Förderung antifaschistischer Kultur e.V. statt.
Antifaschistische Linke International A.L.I. im Oktober 2022
Unser ausführliches Faltblatt "Nie wieder Krieg! Frieden schaffen wir nur selber" zu unserer Demonstration zum 8. Mai 2022 könnt ihr hier nachlesen.
Desertieren · Damals, gestern, heute
Wir verweigern uns dem Krieg!
Veranstaltung · Freitag · 28. Oktober 2022
Antifagruppe A.L.I. und iranische Genossen
19 Uhr · APEX · Burgstraße 46 · Göttingen
DESERTIEREN ist seit dem verbrecherischen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und der russischen Teilmobilmachung gerne gesehen und in aller Munde. Aber wie wandelt sich die gesellschaftliche Sicht auf die Handlung des persönlichen NEIN-Sagens in historischen und regionalen Kontexten? Welche Tugenden verlangt der Militarismus und welche Fähigkeiten müssen Menschen mitbringen, um sich diesem zu entziehen? Welche gesellschaftsverändernde Kraft birgt das individuelle und stille NEIN in sich, wenn es zur massenhaften Verweigerung wird? Die Antifagruppe A.L.I. stellt lokalhistorische Recherchen zu den Schicksalen von Wehrmachtsdeserteuren aus Göttingen und Kassel vor und beleuchtet verschiedene Dimensionen des Desertierens. Aktivisten aus dem Iran berichten von ihren Kämpfen im Iran der 1980er-Jahre. Konfrontiert mit dem 8-jährigen Iran-Irak-Krieg riskierten sie trotz der Festnahmen, Folter, Hinrichtungen und Verfolgungen als „Vaterlandsverräter*innen“ ihre Freiheit und ihr Leben. Sie sprechen über ihre Erfahrungen und Kämpfe in Kriegszeiten, wie sie Deserteure unterstützen, Fluchtwege organiserten oder dafür leerstehende Häuser besetzten.
Bilder und Dokumente zur Aktion zum Thema Desertieren:
https://www.inventati.org/ali/index.php/76-ticker/2087-zu-brennenden-fragen.html#sigProIdcee620e66a
Diese und weitere Bilder bei Flickr Nico Kuhn
Mappe mit den Geschichten der Kasseler Deserteur*innen (pdf)
Unseren Redebeitrag zur Umwidmung des Kriegerdenkmals an den Kasseler Karlsauen in einen Gedenkort für Deserteure sowie zur Anbringung einer Gedenktafel am Kasseler Rathaus während der Aktionen am 1. September 2022 in Kassel findet ihr hier.
Verweigern wir uns dem Krieg!
Beitrag iranischer Genossen zur Veranstaltung am 28. Oktober 2022
Mit ihrem folgenden Text laden iranische Genossen zur Veranstaltung und Diskussion am Freitag, den 28. Oktober 2022 ein.
„Im September 1980 brach ein 8 Jahre dauernder Krieg zwischen dem Iran und dem Irak aus. Die Ursachen dieses Konflikts liegen nicht nur bei den beiden kriegsführenden Staaten, sondern auch in der Einmischung und der Kriegspolitik der imperialistischen Mächte. Wie jeder Krieg wurde auch damals der Krieg zwischen Iran und Irak zu einem lukrativen Geschäft für Anleger*innen der Waffenindustrie weltweit. Ohne diese hätten beide Seiten nach spätestens einem halben Jahr wegen der Erschöpfung ihrer Reserven aufgeben müssen. Mehr als eine Million Menschen verloren durch den Krieg das Leben. Jeder Krieg ist Teil der kapitalistischen Normalität, aber auch der kapitalistische „Frieden“ schafft Unterdrückung und Abhängigkeiten.
Damals wurden die finanziellen Kosten für den Neuaufbau der beiden zerstörten Länder auf ca. 1,5 Billionen US-Dollar geschätzt. Die nationalchauvinistische Propaganda beider Länder (Panarabismus und Panislamismus) hat die Bevölkerung dazu gebracht, die schrecklichen Opfer des Krieges zu akzeptieren. Sogar die meisten Oppositionsgruppen fühlten sich zu „nationaler Solidarität“ verpflichtet und nahmen aktiv an der Verteidigung des „Vaterlandes“ teil.
Am 28. Oktober werden im Göttinger APEX Genossen aus dem Iran sprechen und erzählen, wie sie damals ihren Antimilitarismus dem Kriegsgeschehen zwischen zwei Staaten entgegenstellten. Trotz der Festnahmen, Folter, Hinrichtungen und Verfolgung als „Vaterlandsverräter*innen“ riskierten sie ihre Freiheit. Sie sprechen mit euch über ihre Erfahrungen und Kämpfe in Kriegszeiten, wie sie Deserteure unterstützten, wie sie Fluchtwege organisierten, oder wie sie dafür leerstehende Häuser besetzten. Danach stellen wir uns die Fragen:
Welche Aufgabe haben wir als Revolutionär*innen?
Wie gehen wir um mit Kriegen, in die uns Staaten und reaktionäre Argumentationen hineinziehen wollen?
Oder: Wie können wir die Propaganda, Logistik und Logik des Krieges stören?“
Redebeitrag zum Deserteuersgedenken am 1. September 2022 in Kassel
Wir haben heute am 1. September 2022, dem alljährlich wiederkehrenden Antikriegstag, das Kasseler „Ehrenmal an der Karlsaue“ in ein Denkmal für die Kassler Deserteure umgewidmet. Wir haben außerdem am 1. September 2022, dem alljährlich wiederkehrenden Antikriegstag hier am Rathaus eine Deserteurstafel auf.
Dieses schauderliche, scheußliche Kriegerdenkmal an der Karlsaue diente am 01.09. für eine kurze Zeit, 77 Jahre nach Ende des Deutschen Faschismus und 2. Weltkrieges, nicht mehr den Täter*innenn des Deutschen Faschismus - sondern erzählt in verschiedene Geschichten von Kasseler Deserteur*innen. Darin zu finden sind nun Geschichten vom Mut oder der Menschlichkeit derjenigen, die sich unter Androhung hoher Strafen dem Krieg entzogen haben.
Ende der 1970er Jahre begann in Deutschland die Debatten um Denkmäler für Deserteur*innen. 1985 konnte im Kasseler Kriegerdenkmal die erste Gedenktafel für Deserteur*innen der Wehrmacht offiziell realisiert werden. Die Widmung fällt jedoch hinter die Vorschläge der damaligen Aktivist*innen zurück Die Gruppe „Visuellen Opposition“ eine Gruppe von Studierenden, Professor*innen und Künstler*innen habe 1981 eine Deserteurstafel hier am Rathaus in Kassel aufgehängt. Damit gedachten sie all jenen, die sich dem Krieg verweigert haben und auch ajj jenen, die den Krieg verweigern werden.
Die von der Stadt Kassel im Kriegerdenkmal installierten Tafel gedenkt ausschließlich den politischen Deserteur*innen, die sich dem Dienst der Wehrmacht entzogen haben.
Diese Tafel, die wir hier aufgehängt haben, schließt in anlehnugn an die Tafel von 81 alle mit ein, die sich aus menschlichen Gründen oder schlicht auf Grund des Willens zum Leben dem Krieg verweigert haben. Diese Tafel gedenkt auch explizit allen zukünftigen Kriegsdienstverweigerer*innen und zukünftigen Deserteur*innen.
Wir sagen: Es reicht nicht bei den Debatten um das Gedenken an die Deserteur*innen der Wehrmacht stehen zu bleiben. Es geht um die grundsätzliche Infragestellung jener „Tugenden“ und „heroischer“ Männerbilder, die zu Elend, Krieg und Faschismus geführt haben: Dazu gehört die Aberziehung sozialer Fähigkeiten und menschlicher Empathie, darauf basierender Härte gegen sich selbst und andere. Diese Erziehung zu Maschinen, soll dann zu Tapferkeit umgedeutet werden und mit bedingungslosem Gehorsam und autoritärer Fügung ergänzt werden. Auf dieser Grundlage wird dann versucht die eigene Verantwortung für die begangenen Grausamkeiten abzugeben.
Diese Deserteurstafel würdigt alle, die sich dem entziehen - egal ob aus politischer Haltung oder auf Grund menschlicher Fähigkeiten!
Wir haben uns erlaubt, diese Tafel von 1981 in der Übertragung auf unseren heutigen Kontext erneut abzuwandeln: Anstatt eines Nietzsche Zitates, das das Kämpfen grundsätzlich in Frage stellt, verwenden wir ein Zitat aus einem Aufruf der Auschwitz-Überlebenden und Antifaschistin Esther Bejerano, die sich im Jahr 2019 mit einem solidarischen Grußwort an antimilitaristische Aktivist*innen der Kampagne Rheinmetall entwaffnen, wendete. In diesem Grußwort fordert sie uns dazu auf, weiterhin für eine bessere und gerechtere Welt zu kämpfen:
Deutschland wurde nach 1945 nicht entmilitarisiert, wie zunächst vorgesehen. Bereits in den 50ern begann angesichts des Kalten Krieges der Wiederaufbau einer deutschen Armee als Massenarmee, der Bundeswehr. Durch diese sollte die ganze männliche Bevölkerung wehrhaft gemacht werden. Es begann ein Wiederaufbau unter Einbezug der ehemaligen faschistischen Wehrmachtsoffiziere. Kontinuitäten finden wir bis heute in den Bezügen der Bundeswehr auf die Wehrmacht: Kasernen, die nach Propaganda-Helden des Deutschen Faschismus benannt sind, Kasernen in denen immer wieder Nazi-Devotionalien auftauchen.
So wurde die neue deutsche Armee, die Bundeswehr, wieder eine Pflichtarmee, wieder als „Schule der Männer-Nation“: Hier sollten junge Kerle zu „wahren deutschen Männern“ werden; Ordnung und Gehorsam lernen. Ein Glück, dass diese Schulung der Nation durch den Widerstand zahlreicher Kriegsdienstverweigerer*innen verhindert wurde, bis im Jahr 2011 die allgemeine Wehrpflicht für Männer ausgesetzt wurde.
Die Bundeswehr, nun eine reine Berufsarmee, bleibt dennoch ein Problem: Eingesetzt in zahlreichen militärischen Einsätzen weltweit, mal zur Verteidigung deutscher Werte oder Handelswege, mal zur Sicherung von Einfluss und Ressourcen, mal zur Verhinderung von Migration über den Globus.
Doch damit nicht genug. In der Bundeswehr gibt es organisierte rechte Schattennetzwerke, wie das Hannibal-Netzwerk. Ein Zusammenhang aus organisierten Neonazis, Soldat*innen, Reservist*innen, Verfassungsschützer*innen, Kriminalpolizei und Teilen des Sondereinsatzkommandos (SEK). Ein Netzwerk, das für den Tag X den bewaffneten Umsturz vorbereitet, Anschläge plant und Todeslisten führt. Zu ihnen gehört zum Beispiel Franco Albrecht, jener Bundeswehroffizier, der sich im Jahr 2015 als syrischer Flüchtling tarnte, um als dieser Anschläge zu begehen, um so die Stimmung in Deutschland gegen Migrant*innen weiter anzuheizen.
Während noch im Jahr 2020 eine Debatte darüber geführt wurde, die Spezialeinheit der Bundeswehr KSK auf Grund ihres so offensichtlichen Neonaziproblems aufzulösen, wird im Jahr 2022 entschieden, 100 Milliarden Euro in diese von Neonazis durchsetzte Bundeswehr zu pumpen. Auch heute wieder soll die Bundeswehr rehabilitiert werden; wieder einmal soll dazu die wiedererstarkte Logik des Kalten Krieges die Begründungen liefern!
Wir sagen: Keine Ehre den Soldat*innen! Lasst uns ein Vorbild nehmen an all jenen, die damals desertierten, die in der jungen Bundesrepublik den Kriegsdienst verweigerten, die gegen den allgemeinen Kriegsdienst mobilisierten.
Auch heute, nach der Entscheidung die Bundeswehr mit weiteren 100 Milliarden Euro aufzurüsten, müssen wir den Kampf gegen die Militarisierung der deutschen Gesellschaft mit Nachdruck weiterführen!
Diese Deserteurstafel soll uns alle daran erinnern, diesen Kampf weiter zu führen!
Splitter im Exil · Made in Germany
Performance-Theater · Lesung
Mit Gruppe "Drang" (Berlin) und Ali Fathi (Hamburg)
Samstag · 26. November 2022
16 Uhr · musa · Hagenweg 2a · Göttingen
Als Ali Fathi im Alter von 63 Jahren in Hamburg eine Krebsdiagnose erhält, wird er von unerwarteten Rückblenden heimgesucht: Vor 40 Jahren wurde er bei einer Demonstration im Iran von Splittern einer Handgranate getroffen. Ali, der sich in seinem neuen Exil immer in Sicherheit wähnte, stellt fest: Die Handgranate, die ihn lebensgefährlich verletzte, wurde in seiner neuen Heimat hergestellt – Deutschland. Auf der Suche nach Verantwortlichen findet er heraus, dass deutsche Waffenexporte eine Tradition haben, die bis in die Weimarer Republik zurückreicht, und bis heute für Tod und Leid in der ganzen Welt mitverantwortlich sind. Um sein Trauma zu überwinden, sucht er Verbündete in der Diaspora. Gemeinsam mit anderen Überlebenden brechen sie schließlich ihr Schweigen und fordern die deutsche Gesellschaft auf, endlich Verantwortung zu übernehmen.
Folge und Wirkung der Deutschen Waffen, die nur für die Kriege und „Vaterlandsverteidigung“ Hergestellt werden und nicht für die Gestaltung des Wohnzimmers in Westen.
Vor 41 Jahren, am 21.4.1981, protestierten Schüler*innen, Lehrer*innen und Dozent*innen für die Öffnung der Teheraner Freien Universität. Diese war ein Jahr zuvor wegen der sogenannten Kulturrevolution bzw. Islamisierung der Bildung geschlossen worden. Wie viele andere Kolleg*innen auch war der ehemalige Dozent Ali Fathi suspendiert worden.
Auf dieser Demonstration wurden zwei Handgranaten in die Menge geworfen. Drei Tote, hunderte Verletzte waren die Folgen. Ali Fathi gehörte zu den Überlebenden. Nachdem 37 Splitter aus seinem Körper entfernt wurden und ihm eine 2,5-jährige Inlandsflucht gelungen war, musste er wegen der sich fortsetzenden politischen Repressalien das Land 1984 verlassen.
Ali Fathi suchte in seinem Westberliner Exil eine weitere ärztliche Behandlung. Im Iran war ihm das bisher unmöglich. In der Moabiter Klinik eröffnete ihm ein Arzt, dass die 67 verbliebenen Splitter der Handgranaten in seinem Körper aus deutscher Produktion stammen.
Fathi ist innerlich zerrissen: Das Land, das ihm ein neues Leben geschenkt hat, hat die Katastrophe erst möglich gemacht. Sein Leben hat sich für immer verändert.
Er brach sein Schweigen nach 37 Jahren, suchte die anderen Verletzten und fand Einige in Kanada, in den USA, in Schweden und auch in Berlin. Ali begann mit ihnen einen Austausch darüber, was die Folgen dieses Traumas für sie bedeuteten. Alle Verletzten des 21.4.1981 im Iran haben den Iran–Irak Krieg erlebt, welche ihr Leben zusätzlich beeinträchtigt hatte. Sie sind nun durch den Russland-Ukraine Krieg wieder an ihre eigenen Kriegserfahrungen haut- und seelennah erinnert worden.
Die Theater-Performance der iranischen Gruppe Drang aus Berlin ist auf farsi mit deutschem Untertitel. Die Lesung von Ali Fathi aus Hamburg begleitet das Bühnen-Stück.
Anschließend wird das Publikum mit der Methodik des „Forumtheaters“ miteinbezogen.
Gedenken an den Deserteur Ernst Fischer
antifaschistische Erinnerungskultur
Stadtrundgang
14 Uhr · Hiroshimaplatz · Göttingen
In Göttingen am Wohnhaus Neustadt 17 findet sich eine Gedenktafel: „Ernst Fischer, geboren am 8.6.1915 in Göttingen. Hingerichtet am 3.2.1940 in Berlin-Plötzensee“.
Wer war Ernst Fischer? Bis heute fehlt im öffentlichen Raum jede Erklärung, warum der junge Göttinger sterben musste.
Ernst Fischer kommt aus einer sozialdemokratischen Familie, sein Vater stirbt vermutlich im Ersten Weltkrieg. Danach kommt die Mutter mit den älteren Schwestern 1915 zurück nach Göttingen, hier wird am 8.6.1915 Ernst Fischer geboren. Sie wohnt mit den drei Kindern zunächst in der Wendenstraße 7 und zieht später in die Neustadt 23, das später die Hausnr. 17 erhält. Friederike Fischer „malocht“ in Göttingen täglich 8 Stunden im Lager der Firma Ruhstrat. Die Firma Haustechnik-Schaltanlagen Adolf Ruhstrat mit Sitz in der Adolf-Hoyer-Str. 6 in Göttingen gilt als NSDAP-freundliches Unternehmen. Während Friederike Fischer das Geld verdient, nimmt die Großmutter die 3 Kinder zu sich und zieht sie groß.
Bei der Firma Adolf Ruhstrat macht auch Ernst Fischer eine Berufsausbildung zum Feinmechaniker. Er ist Mitglied im Kommunistischen Jugendverband (KJVD) und im antifaschistischen Widerstand aktiv. Er stellt auch nach 1933 illegale Schriften her und vertreibt diese; so fällt er 1934 den Behörden als Verteiler des kommunistischen Jugendblatts „Junge Garde“ im Saarland auf. Doch schon bevor die Nazis die Macht übertragen bekommen, gerät Fischer mit dem Staat in Konflikt. Seit dem 6.12.1932 sitzt er in der Erziehungsanstalt in Hannover-Laatzen Kronsberg ein. 1934 wird er in einem Bericht des Göttinger Staatsanwalts vom 19.12.1934 als „übelbeleumundeter Mensch, der bereits in jungen Jahren Diebstähle ausführte und bis zur nationalen Erhebung der kommunistischen Jugend angehörte“, benannt. Seit dem 5.3.1935 wird er im Jugendgefängnis Neumünster festgehalten.
Schließlich arbeitet Ernst Fischer als Matrose in Kiel. 1938 muss er seinen Wehrdienst bei der Kriegsmarine antreten. Im selben Jahr wird er das letzte Mal in Göttingen gesehen.
Am 21.12.1939 wird Ernst Fischer vom Reichskriegsgericht wegen „Fahnenflucht und Landesverrat zum Tode und zu 2 Jahren Gefängnis“ verurteilt. Vermutlich desertierte er von der Wehrmacht, um sich nicht am faschistischen Angriffskrieg zu beteiligen. Am 3.2.1940 wird er im Alter von 25 Jahren in Plötzensee geköpft. In der Nazi-Hinrichtungsstätte werden während des Faschismus 2.915 politische Gegner*innen; aber auch Militärangehörige, denen kriminelle Delikte vorgeworfen werden; ermordet. Fischer ist im Plötzensee-Gedenkbuch namentlich aufgeführt.
Seine Schwester Else bewegt sich im Umfeld des Internationalen Sozialistischen Kampfbunds (ISK) und arbeitet bis 1933 im Kindergarten des Freidenker-Verbands in Göttingen. Sie heiratet Otto Wagner, wird nach der Befreiung vom Faschismus SPD-Mitglied, ist bei den Naturfreunden aktiv und arbeitet bei der AWO. In einem Zeitzeugeninterview erinnert sich der Kommunist Willi Rohrig: „Ich weiß noch, wie ich aus der Gefangenschaft gekommen bin. Wie die Else Wagner auf Antikommunismus gemacht hat. Da habe ich mit den Ohren geschlackert und der Otto war doch früher KJV gewesen“.
Else Wagner selbst zeigt sich von der Initiative des DKP-Ratsherrn Reinhard Neubauer für eine Straßenbenennung nach ihrem Bruder Ernst Fischer wenig angetan. Ihre Mutter habe sich aus Sorge vor Nachteilen für die Schwiegersöhne der Familie nicht mit der Geschichte ihres Sohnes beschäftigen wollen. Else Wagner: „Das bringt die nur in Deibels-Küche, wenn wir da jetzt was anrühren, da muss man sich mit abfinden. Die Mutter hat sehr darunter gelitten aber nie was dazu gesagt. Kurz bevor sie starb hat sie alle Unterlagen, wie’s Telegramm aus Plötzensee (…) zerrissen. (…) Egal“. Und weiter: „Und die wühlen das jetzt wieder auf. Ich war nicht so sehr begeistert. Ha’m s’e da innen Rat gebracht. 40 Jahre nach Kriegszeit und so weiter. Ha’m sich dazu durchgerungen, dass sie ihm an seinem Wohnhaus eine Tafel widmen wollen. Na ja, davon ha’m wir ihn auch nicht wieder, der wäre jetzt 71 geworden.“
Der Antrag für eine Würdigung Ernst Fischers wurde am 1.3.1985 von Reinhard Neubauer (DKP) im Namen auch der Fraktionen der SPD, GLG und Agil in den Rat der Stadt Göttingen eingebracht. Die Umstände, dass die Leiterin des Stadtarchivs trotz aufwändiger Recherchen nur wenige Informationen über Ernst Fischers Leben zusammentragen kann, der Beigeschmack seiner vermeintlichen „kriminellen Karriere“ und vermutlich die Aufforderung, einem Kommunisten gedenken zu sollen, färbt die Diskussionen mit einem problematisierenden Unterton. Die Gedenktafel für Ernst Fischer kann schließlich am 10.6.1986 eingeweiht werden. Auf ihr fehlt jedoch jeder Hinweis, dass es sich bei ihm um einen Kommunisten und Antifaschisten handelte, der sich dem Kriegsdienst widersetzt hat. Um diesen Teil der Widerstandsgeschichte gegen den deutschen Faschismus muss in Göttingen weiter gerungen werden.
Weiter lesen zur Lebensgeschichte von Ernst Fischer und anderer Göttinger Antifaschist*innen: „Antifaschistische Geschichtspolitik“. Eine Broschüre der Antifaschistischen Linken International A.L.I. Göttingen, 2014.
Unseren Stadtplan von Göttingen mit Orten antifaschistischer Erinnerungskultur könnt ihr hier als pdf-Datei runterladen.