Verantwortung übernehmen: Alle Fluchtgründe anerkennen!

Deutschland will Willkommens-Weltmeister werden und „beseitigt Fehlanreize“. Wie das zusammenpasst zeigt der Diskurs zu „Wirtschaftsflüchtlingen“ durch den Gruppen von Geflüchteten gegeneinander ausgespielt werden sollen.

Warm, kalt, warm, kalt – Topfschlagen in Kaltland

Es war ein Sommer der Höhen und Tiefen. Zunächst verschärft die Bundesregierung, auch als Reaktion auf die „besorgten Bürger“ der diversen GiDas, die Asylgesetzgebung um Menschen schneller und besser einsperren und abschieben zu können. Bundesweit brennen immer wieder geplante Unterkünfte für Asylsuchende, in Salzhemmendorf schließlich ein bewohntes Haus. In Freital und Heidenau belagern hunderte Rassist*innen zwei Notlager, schmeißen Steine und Feuerwerkskörper. Die Bilder erinnern stark an den Beginn der 90er Jahre und Orte wie Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen. Aber nein, dieses Mal ist alles anders: Gleichzeitig und in Reaktion auf die Vorfälle, formieren sich vor Ort Bündnisse, die Geflüchteten materielle Hilfe leisten und die von den Behörden herbei geführte Eskalation des Notstands zumindest lindern wollen. Vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin, in Heidenau und dem Erstaufnahmelager in Friedland werden Sachspenden, Essen und ein wenig soziale Wärme verteilt. Die solidarische Grundstimmung ist so stark, dass sich Politiker*innen bis in die CDU, die verantwortlich zeichnen für die oben erwähnte Asylgesetzgebung und denen Abschiebungen nicht schnell genug gehen können, bemüßigt sehen, klar zu stellen, dass sie auch „für Flüchtlinge sind“. Die Überfremdungs-Rhetorik, wie sie in den 90ern noch vom Spiegel bedient wurde, scheint endgültig ausgedient zu haben. Dies ist ein Erfolg der antirassistischen Auseinandersetzungen der letzten zwanzig Jahre und der in den letzten 5 Jahren verstärkten Selbstorganisierung Geflüchteter.

„Also, haben wir dann etwa gewonnen jetzt?“

So wichtig dieser Fortschritt im öffentlichen Diskurs und im individuellen Denken und Handeln ist, genau so leicht lässt er sich instrumentalisieren für eine weitere Brutalisierung des EU-Migrationsregimes im Innern und an den Außengrenzen. Denn nur ein oder zwei Sätze nach der vermeintlichen Solidaritätsbekundung werden Partei-Offizielle nicht müde zu betonen, dass sichergestellt werden muss „das alle die Recht auf Asyl in der BRD haben dieses auch bekommen“. Gemeint sind die „echten Flüchtlinge“, deren Leben jeden Tag am seidenen Faden hängt, weil um sie herum in unterschiedlichen Kombinationen mit europäischen Waffen und Beteiligungen Krieg geführt wird. Deren Schutz werde durch die „Nicht-Asyl-Berechtigten“ behindert. Ergänzt wird gerne, dass Deutschland seiner Verantwortung gegenüber den „Zuwanderern mit Bleiberechtsperspektive“ nachkommen müsse. Entsprechend sind die vorgeschlagenen Maßnahmen der gerade noch „Für Flüchtlings“-Politiker*innen repressiver Natur, wie auch der sogenannte „Flüchtlingsgipfel“ zeigte: Die faktische Inhaftierung Unschuldiger in Erstaufnahmeeinrichtungen soll verlängert werden, mit Gutscheinen sollen Menschen stigmatisiert und entmündigt werden, wenn ihnen nicht gar Leistungen unter das Existenzminimum gekürzt werden, die EU-weite Vereinheitlichung der „sicheren Herkunftsstaaten“ soll Abschiebungen ermöglichen ohne überhaupt ein Asylverfahren eröffnen zu müssen und generell soll an der effizienteren Umsetzung von Abschiebungen gearbeitet werden. . Man ist kreativ bei der Erfindung von Maßnahmen um Geflüchteten das Leben noch ein klein wenig schwerer zu machen. Perfider weise dient die eigene, wenige Monate alte, politische Entscheidung, Menschen aus „den Westbalkanstaaten“ generell das Recht auf Asyl abzusprechen, als Legitimation für die repressiven Maßnahmen: Wer „ohne Aussicht auf Bleiberecht“ komme, könne ja nur auf eine „Einwanderung in die Sozialsysteme“ aus sein. Nicht erwähnt wird, wer den Menschen die Aussicht auf Bleiberecht genommen hat. Die so als Problemfälle ausgemachten „Nicht-Berechtigten“ haben unterschiedliche Namen, sie reichen von „Asylschmarotzer“ zu „Wirtschaftsflüchtlinge“. Alle Bezeichnungen haben zwei Sachen gemeinsam: Sie spalten Migrationsbewegungen in „rechte“ und „unrechte“ und ihr eigentlicher Inhalt ist (mehr oder weniger gut versteckter) Rassismus.

Von „Zigeunern“ zu „Flüchtlinge aus den Westbalkanstaaten“ – neoliberal codierter Rassismus

Offen rassistische Bezeichnungen und Positionen sind in der Bundesrepublik erfolgreich marginalisiert. Das hindert die Neue Rechte (AfD, Pegida) und Politiker*innen aller Parteien jedoch nicht daran, diesen Ansichten durch eine erneuerte Wortwahl Raum zu geben. Dies betrifft aktuell vor allem Sinti und Roma. Der „faule, dreckige, stehlende Zigeuner“ hat dabei als Feindbild diskursiv ausgedient, euphemistisch werden die gleichen Ressentiments als „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder Flüchtlinge aus den Westbalkanstaaten“ codiert. Stahlen „Zigeuner“ früher Kinder, nehmen die neuen „Armutszuwanderer“ „uns Deutschen“ in Zeiten neoliberaler Umverteilung von unten nach oben etwas viel Kostbareres: „unsere Steuergelder“. Denn, so die Argumentation, diese Menschen wollten ja nichts anderes als ihrer Armut zu entkommen und das sei nun mal „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ und „Asylmissbrauch“. So verteidigt die „Integrationspolitische Sprecherin“ der CDU Cemile Giousouf (CDU) die von ihrer Partei geplanten Maßnahmen gegen Geflüchtete. Zielsicher machen sie und ihre Partei die Flüchtenden und nicht die Rassist*innen als Kern des Problems aus. In einem Interview mit der taz bringt sie ihre Ansicht auf den Punkt: „Unser Grundgesetz regelt klar, wer Recht auf Asyl in Deutschland hat. Wirtschaftliche Gründe zählen eben nicht dazu.“ Diese Sätze stehen dort tatsächlich, was sie allerdings nicht richtiger macht. Zum einen gelten als “Wirtschaftsflüchtlinge“ alle Menschen aus „sicheren Herkunftsländern“, ungeachtet realer Diskriminierung und Verfolgung. Wie es um die Sicherheit vor Ort bestellt ist kennzeichnet ein Bericht der NGO proAsyl aus dem Jahr 2013:

Diskriminierung von Frauen, Behinderten, Homosexuellen und Angehörigen ethnischer Minderheiten ist an der Tagesordnung. Marginalisierte Gruppen, insbesondere Roma, die allgemein als die am meisten gefährdete oder schutzbedürftige (vulnerable) Gruppe gelten, haben kaum Möglichkeiten, ihre Rechte geltend zu machen und werden häufig Opfer von Gewalt. In diese Verhältnisse sollen Menschen möglichst schnell abgeschoben werden, wenn von „Wirtschaftsflüchtlingen“ und der „Beseitigung von Fehlanreizen“ die Rede ist.

„Wer arm ist, hat sich dafür entschieden“: Die totale Freiheit arm zu sein

Zum anderen missachtet die von Giousouf vertretene Ansicht die politische Dimension von Armut. Das entspricht dem neoliberalen Dogma der absoluten „Eigenverantwortung“. Hier ist Armut ein Ergebnis falscher Entscheidungen des Einzelnen und kann auch nur durch diesen behoben werden. Soziale Faktoren werden nicht als Ursache von Armut, sondern als deren Folge begriffen. So ist in diesem Denkmuster eine fehlende Schulbildung beispielsweise nicht strukturell durch fehlende Schulen oder unmöglichen Zugang zu diesen begründet, sondern durch die mangelnde Entschlusskraft des Einzelnen „seinen Weg zu gehen“. Das Hauptproblem armer Menschen ist im öffentlichen Bewusstsein häufig eine eher unangenehme Einschränkung des persönlichen Konsums. Das Armut eine existenzielle Bedrohung für Gesundheit und Leben darstellt – zumal in Ländern mit (noch) weniger sozialen Sicherungssystemen als der BRD – wird ausgeblendet. Die gern getroffene Unterteilung der Motive für Migration in „gute“ humanitäre und „böse“ ökonomische ist eine konstruierte. Ihr Zweck besteht darin Migrationsbewegungen zu spalten und Menschen die Entscheidungsfreiheit über ihren Wohnort absprechen zu wollen. Da hinter steckt kein individuell böser Wille, sondern lediglich kapitalistische Logik: Nur wessen Arbeitskraft in Mehrwert umgesetzt werden kann, darf migrieren.

Wer von Verantwortung spricht, sollte von Geschichte nicht schweigen

Gerne sprechen Politiker*innen darüber, dass man Verantwortung übernehmen müsse, für die von Krieg Bedrohten. Dies ginge aber nur, wenn die störenden Wirtschaftsflüchtlinge endlich mal wegblieben. Allerdings: Gerade für die Situation in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens haben die Bundesrepublik und die EU eine besondere Verantwortung. Gerne wird vergessen, dass Deutschland in den Balkanstaaten im letzten Jahrhundert mehrfach Krieg geführt hat. Auch wurde während der 80er Jahre der IWF bei seinen „Strukturanpassungsprogrammen“ unterstützt, um die Schulden der jugoslawischen Föderation einzutreiben. Folge waren nicht nur ein Sinken der Reallöhne um 40% und eine Inflation, die private Ersparnisse vernichtete. Auch ethnische Spannungen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen nahmen zu als die Regierungen der Teilrepubliken zur gegenseitigen (De)legitimierung auf ethnopolitische Rhetorik setzten. Als sich Slowenien und Kroatien 1991 schließlich für unabhängig erklärten, erkannte die Bundesrepublik dies umgehend an. Bereits vorher war von Seiten der Bundesregierung Zustimmung signalisiert worden. Noch während des anschließenden Krieges vereinbarte der IWF gegen Auflagen, wie Kürzung der Staatsausgaben und Senkung der Reallöhne, mit den Teilrepubliken weitere Kredite. Dadurch wurden weitere ausländische Kredite die einzige Möglichkeit den eigenen Wiederaufbau zu finanzieren, vergesellschaftete Unternehmen wurden privatisiert und abgewickelt, die Arbeitslosigkeit stieg weiter. Als die so geschaffenen Spannungen sich entlang ethnischer Linien 1998 erneut in einem Krieg entluden, beteiligte sich die BRD am Angriff der NATO. Wieder einmal wurde in Serbien und Kosovo gezielt Infrastruktur vernichtet. Auf diese Weise wirken die beiden letzten Balkan-Feldzüge bis heute nach.

Aber nicht nur die Vergesslichkeit, ob der eigenen Rolle bei der Entwicklung in anderen Ländern hat in Deutschland Tradition. Auch die Leugnung eines gegen Sinti und Roma gerichteten Rassismus ist keine Erfindung der Regierung Merkel. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde von deutschen Gerichten der rassische Charakter der Vernichtung von Sinti und Roma bestritten. Vielmehr seien „die asozialen Eigenschaften der Zigeuner“ (sincerely yours, the Bundesgerichtshof 1956) der Grund der Verfolgung gewesen. Entsprechend wurden Entschädigungsanträge Überlebender zu nahezu 100% abgelehnt. Trotz schrittweiser politischer Anerkennung des Porajmos1 als rassistischer Völkermord, änderte sich an der juristischen Beurteilung nichts. Eben so wenig änderten sich vorherrschende rassistische Denkmuster und Argumentationsfiguren gegen über den Opfern deutscher Vernichtungspolitik.

Humanitäre Rhetorik durchschauen

Die Stellungnahme „für Flüchtlinge“ muss also kritisch hinterfragt werden. So werden unter dem Deckmantel eines Humanismus zugleich die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge als Sündenböcke gebrandmarkt. Menschen, die unakzeptable und perspektivlose Lebensumstände nicht hinnehmen wollen, werden als eigennützige Akteure geächtet, die unrechtmäßig an ‚unserem‘ Reichtum teilhaben wollen. Diese für die gegenwärtige Politik zentrale Differenzierung nährt sich gerade aus den rechtspopulistischen und rassistischen Vorurteilen gegen vermeintlich sozialschmarotzende Einwander*innen. Solange Schreibtischtäter*innen und geistige Brandstifter für eine Fortsetzung dieser Selektion sorgen, können sich tatsächliche Brandstifter immer als effizienteste Vollstrecker der staatlichen Asylpolitik begreifen. Es ist dagegen unabdingbar, die Legitimität aller Fluchtgründe und von Migration in allen ihren Formen zu betonen, ohne ökonomisch motivierte Einschränkungen, Ausschlüsse und Hindernisse.


1 Das Romanes-Wort „Porajmos“ bezeichnet den Völkermord an den europäischen Roma in der Zeit des Nationalsozialismus.