Zur prekären Wohnsituation von Studierenden und Flüchtlingen und den blinden Stellen der Debatte
Wohnraum ist in der öffentlichen Debatte bereits seit längerer Zeit ein heißes Thema. Zwei Gruppen, die sowohl lokal als auch bundesweit oft im Mittelpunkt der medialen Wahrnehmung stehen, sind Studierende und Flüchtlinge.
In beiden Fällen ist auffällig, dass in Bezug auf aufgeworfene Probleme häufig auf quasi naturgesetzliche Begründungsmuster zurückgegriffen wird: Es gebe steigende Studierenden– oder Flüchtlingszahlen und deshalb werde Wohnraum knapp. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich schnell, dass diese Argumentation auf tönernen Füßen steht. So treten vor allem zwei Aspekte hervor: Zum einen die Unmöglichkeit grundlegende Bedürfnisse wie Wohnraum über eine marktbasierte Ökonomie abzudecken, zum anderen die fatale Wirkung politischer Entscheidungen, die die Verelendung marginalisierter Bevölkerungsgruppen weiter vorantreiben.
Studentische Wohnungsnot und die Beseitigung des sozialen Wohnungsbaus
In Göttingen hat die studentische „Wohnrauminitiative“ anhand konkreter Beispiele deutlich aufgezeigt, wie das Studentenwerk durch eine Sanierungspolitik, die kostengünstige WG-Wohnungen durch Einzelapartments mit hohen Mieten ersetzt, nicht nur eine lebendige Wohnkultur zerstört, sondern auch zu einer Verschärfung der Wohnungsnot beiträgt. Bereits auf dieser Ebene zeigt sich die Wohnraum– auch als Klassenfrage: Während die teuren Apartments für Student_innen aus wohlhabenderen Elternhäuser weiterhin finanzierbar sind, haben gerade Leute aus Arbeiter_innenfamilien das Nachsehen. Von einer naturwüchsigen Entwicklung kann jedenfalls keine Rede sein. Ähnlich stellt sich die Entwicklung auf der städtischen Ebene dar. Gerade hier wird deutlich, dass die Problematik eben nicht einfach durch eine höhere Nachfrage erklärbar ist. Zwar sind die Studierendenzahlen in den letzten Jahren tatsächlich gestiegen, sie liegen aber immer noch deutlich niedriger als in den 1990ern. Entscheidender ist, dass die Einwohner_innenzahlen in Göttingen in den letzten fünfzehn Jahren eine große Stabilität aufweisen. Gleichzeitig hat sich der Wohnungsbestand im Zeitraum von 2000 bis 2012 um mehr als 2700 Einheiten vergrößert. Parallel dazu hat sich jedoch die Mietpreisstruktur deutlich verschoben: Während es eine Zunahme an teuren Wohnungen gibt, ist zugleich das Angebot an Wohnungen im niedrigen Mietpreissegment erheblich zurückgegangen. Auch das ist keine zufällige Entwicklung, sondern das Ergebnis einer in den letzten Jahrzehnten forcierten Politik der Umverteilung von „oben“ nach „unten“.
Schon lange gibt es bundesweit eine starke Tendenz, soziale Infrastruktur abzubauen bzw. zu privatisieren und auch in diesem Bereich auf Marktsteuerung zu setzen. In Hinblick auf Wohnraum zeigt sich dies z.B. durch die weitgehende Beseitigung des sozialen Wohnungsbaus und den Verkauf kommunaler Wohnungsbestände. Göttingen bildet hier keine Ausnahme: Einerseits ist zwischen 2000 und 2011 die Zahl der Sozialwohnungen um mehr als ein Viertel von 4402 auf 3191 Wohneinheiten gesunken. Andererseits hat die Stadt in den vergangenen Jahren zahlreiche attraktive Grundstücke wie z.B. das ehemalige Stadtbadareal an private Investoren verscherbelt. Da das Interesse der Investor_innen jedoch nicht darin besteht, bezahlbaren Wohnraum für breite Bevölkerungsgruppen zu schaffen, sondern möglichst profitable Anlageformen zu finden, entstehen bei der Privatisierung von Gebäuden und Grundstücken in der Regel keine kostengünstigen Unterkünfte, sondern hochpreisige Wohn– und Gewerbeflächen. Der gleiche Mechanismus führt dazu, dass bisher im niedrigen Mietpreissegment angesiedelte Wohnungen durch Luxussanierungen und Mietsteigerungen für Viele unbezahlbar werden. Es entsteht das, was sich in Göttingen an der Oberfläche vor allem als studentische Wohnungsnot zeigt, real aber auch viele andere Menschen ohne dicken Geldbeutel betrifft.
Marode Häuserblocks und isolierte Sammelunterkünfte: Die Wohnsituation von Flüchtlingen
Eine der ebenfalls von Wohnungsnot betroffenen Gruppen, für die sich die Lage noch deutlich dramatischer darstellt, sind Flüchtlinge. Wenden wir uns der Frage der Wohnsituation von Geflüchteten und der Debatte darum zu, so stoßen wir einerseits auf bereits oben beschriebene Phänomene, andererseits kommen hier staatliche Ausgrenzungspolitik und Rassismus als zusätzliche Faktoren mit ins Spiel. Gerade wenn es um diese Bevölkerungsgruppe geht, wird in der öffentlichen Diskussion gern mit großen Zahlen operiert und eine angeblich dramatische Steigerung beschworen. Tatsächlich ist es in jüngster Zeit mehr Menschen als in den Vorjahren gelungen, auf ihrer Flucht die Grenzen der „Festung Europa“ zu überwinden und bis in die BRD zu gelangen. Dabei handelt es sich allerdings um eine Zunahme auf durchaus niedrigem Niveau, die als solche kaum zur Begründung von Unterbringungsproblemen taugt: 2013 stellten bundesweit lediglich 127.023 Personen einen Antrag auf Asyl, im ersten Halbjahr 2014 waren es 77.109. In den 1990er Jahren lagen die Zahlen erheblich höher: Beispielsweise registrierte das zuständige Bundesamt im Jahr 1992 insgesamt 436.191 Antragsteller_innen.
Dass aktuell trotzdem allenthalben von überfüllten Flüchtlingsunterkünften berichtet wird, hängt mit einer Gemengelage verschiedener Faktoren zusammen. Zum einen handelt es sich schlichtweg um eine aus der Vergangenheit bereits hinlänglich bekannte Inszenierung, mit der Verschärfungen bei der Flüchtlingsabwehr legitimiert werden sollen: Durch die örtliche Konzentration vieler Flüchtlinge in zu kleinen Unterkünften wird gezielt das Bild eines nicht zu bewältigenden Ansturms erzeugt. Besonders gut ließ sich das in den letzten Monaten in München beobachten, wo von den Behörden in der als Flüchtlingslager genutzten Bayernkaserne durch gezielte Überbelegung bewusst eine katastrophale Situation herbeigeführt wurde. Es ist kein Zufall, dass dies zeitlich mit Bestrebungen Bayerns zusammenfiel, eine andere Verteilung der Flüchtlinge zwischen den einzelnen Bundesländern durchzusetzen. Als ein Teil der kasernierten Flüchtlinge durch Proteste eine Verlegung erzwang, zeigte sich, dass andere Unterbringungsmöglichkeiten auch kurzfristig verfügbar waren. Das Beispiel verdeutlicht, dass die Entstehung einer kritischen Wohnsituation mitunter gefördert wird, um bestimmte politische Ziele zu erreichen. Zu diesen Zielen zählt auch die Abschreckung von Flüchtlingen. Dies dürfte nicht nur im Fall der Bayernkaserne ein weiterer wichtiger Faktor gewesen sein, sondern ist generell ein wesentlicher Grund für die häufig praktizierte Lagerunterbringung. Der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth hat darauf schon in den 1980er Jahren ebenso offen wie rassistisch hingewiesen: „Die Buschtrommeln sollen schon in Afrika signalisieren: Kommt nicht nach Baden-Württemberg, dort müsst ihr ins Lager.“
In der Stadt Göttingen gab es zwar bislang keine Lager, dennoch folgt die Unterbringung von Flüchtlingen auch hier grundsätzlich ähnlichen Prinzipien. Wie Geflüchtete in einem Protestschreiben darlegen (siehe S. 5), steht ihre Wohnsituation in eklatantem Widerspruch zum grundlegenden Recht auf ausreichenden und menschenwürdigen Wohnraum. Die meisten Flüchtlinge werden von der Stadt in maroden Häuserblocks im Rosenwinkel und im Neuen Weg untergebracht. Diejenigen, die sich selbst eine Wohnung suchen dürfen, haben bei Vermieter_innen keine Chance, weil sie keinen festen Aufenthaltsstatus, sondern nur kurzfristige Duldungen erhalten. Behördliche Schikanen, die oben beschriebene Verknappung von Wohnraum im unteren Mietpreissegment und in vielen Fällen auch rassistische Einstellungen seitens potentieller Vermieter_innen greifen nahtlos ineinander. Insgesamt zeigt sich auch in Göttingen die Wohnsituation von Flüchtlingen als ein Teil einer vielgesichtigen ausgrenzenden Politik. Die von den zuständigen Behörden geschaffenen Zustände sind ein Element einer Zermürbungsstrategie, die Widerstand brechen und die „freiwillige Ausreise“ erzwingen soll.
Aktuell deuten sich in Göttingen weitere Verschärfungen an, da die Stadt behauptet, aufgrund fehlender Unterbringungsmöglichkeiten keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen zu können. Vor diesem Hintergrund wird einerseits bereits seit einigen Monaten versucht, Geflüchtete zum Umzug nach Hann. Münden zu nötigen. Andererseits hat die Stadt das bisherige Prinzip der „dezentralen Unterbringung“ in Wohnungen aufgegeben und mit der Einrichtung von Sammelunterkünften begonnen, die teilweise in Gewerbegebieten liegen. Ein Umzug nach Hann. Münden würde für viele Flüchtlinge nicht nur einen Verlust vor Ort bereits entstandener sozialer Beziehungen bedeuten, sondern auch ein erhöhtes Abschieberisiko mit sich bringen. Anders als in Göttingen existieren dort keine mobilisierungsstarken Unterstützungsstrukturen, die im Ernstfall aktiviert werden können. Es kann durchaus vermutet werden, dass diese Tatsache für die Überlegungen der verantwortlichen Behörden eine Rolle spielt. Die Sammelunterkünfte, die direkt in Göttingen entstehen, bedeuten für die Betroffenen schon durch ihre Lage eine weitere Verschlechterung. Sie befördern tendenziell die Isolation von der sonstigen Stadtbevölkerung und den Ausschluss vom sozialen und kulturellen Leben. Seit Jahren sind solche Sammelunterkünfte zudem für ihre miserablen Wohnbedingungen bekannt.
Das erzwungene Zusammenwohnen und die weitgehenden Eingriffe in die eigene Lebensführung, die mit dieser Unterbringungsform verbunden sind, führen regelmäßig zu einer erheblichen Zunahme psychischer und physischer Erkrankungen. Trotz aller humanitären Ergüsse, die Göttinger Politiker_innen aktuell zu diesem Thema absondern, ist nicht zu übersehen, dass hier für Flüchtlinge eine Sonderwohnform geschaffen wird, die anderen Bevölkerungsgruppen unter keinen Umständen zugemutet würde. Tatsächlich mag es für die Stadt angesichts der jahrelang praktizierten Reduzierung des Bestandes an Sozialwohnungen schwierig sein, selbst auf moderate Bedarfsschwankungen adäquat zu reagieren. Die aktuellen Entscheidungen stellen jedoch keinen Bruch mit der fatalen Politik der Vorjahre dar, sondern schreiben diese fort. Statt z.B. durch den Bau kommunaler Wohngebäude, in denen verschiedene bedürftige Gruppen gemeinsam leben können, dauerhaft eine menschenwürdige Wohnsituation unabhängig von der Herkunft zu ermöglichen, wird mit der Errichtung der Sammelunterkünfte die Ausgrenzung, Isolierung und Diskriminierung von Flüchtlingen auch in diesem Bereich langfristig festgeschrieben.
Was tun?
Am Beispiel der Wohnungsnot in Göttingen zeigen sich im Kleinen die Paradoxien des nationalstaatlich verfassten Kapitalismus. Obwohl grundsätzlich genügend Wohnraum vorhanden ist, werden Menschen aufgrund mangelnder finanzieller Mittel und staatlicher Ausgrenzungspolitik gezwungen, unter unwürdigen Bedingungen zu leben. Solche Widersprüche sind ebenso wie die Negation selbst elementarster Bedürfnisse konstitutiv für die gegenwärtige Gesellschaftsordnung. Die dauerhafte Beseitigung der hier aufscheinende Probleme und die Verwirklichung eines menschenwürdigen Lebens für Alle kann daher nur durch einen grundlegenden gesellschaftlichen Bruch und eine Bewegung erreicht werden, die die herrschenden Verhältnisse hinwegfegt. Die Konsequenz daraus kann allerdings nicht lauten, auf diesen Bruch zu warten, sondern muss vielmehr darin bestehen, den Kampf für unsere Interessen im Hier und Jetzt aufzunehmen, um gemeinsam zu eben dieser Bewegung zu werden.
Beim Blick auf die letzten Jahrzehnte zeigt sich, dass es in Hinblick auf die Wohnraumfrage durchaus substantielle Veränderungen gegeben hat und dass politische Entscheidungen dazu beigetragen haben, dass die Lage sich für Viele deutlich zugespitzt hat. Diesen Trend gilt es nun umzukehren. Nicht nur angesichts der skizzierten Entwicklung wäre es reichlich naiv auf die offizielle Politik zu setzen. Stattdessen sollten Betroffene prüfen, wie sie sich organisieren können und welche Optionen der Selbsthilfe für sie in Frage kommen. Besetzungen und eigenmächtige Mietkürzungen mögen angesichts der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse für Viele aktuell schwer vorstellbar sein, sind grundsätzlich aber ebenso naheliegend wie legitim. Darüber hinaus können an die politisch Verantwortlichen auch ganz konkrete Forderungen gestellt werden, deren Verwirklichung erste kleine Schritte in die richtige Richtung bedeuten würden. Diese Forderungen könnten z.B. die folgenden Punkte beinhalten: Duldung von Besetzungen. Zugang zu leerstehenden Häusern und Wohnungen, ggf. durch Nutzung bestehender rechtlicher Regelungen zur Beschlagnahme von Wohnraum zur Vermeidung von Obdachlosigkeit. Anstelle der weiteren Privatisierung attraktiver städtischer Grundstücke und der Errichtung von isolierten Sammelunterkünften für Flüchtlinge: Schaffung kommunaler Wohngebäude durch Neu– oder Umbau, in denen verschiedene bedürftige Gruppen, wie finanzschwache Studierende, Flüchtlinge, ALG II-Empfänger_innen, Geringverdienende usw. gemeinsam ein Leben unter würdigen Bedingungen führen können. Erteilung dauerhafter Aufenthaltstitel statt kurzfristiger Duldungen. Keine dieser Forderungen wird ohne massiven Druck durchsetzbar sein. Es liegt also an uns. Wer, wenn nicht wir?