Wenn heute der Sächsische Verfassungsschutzbericht 2015 vorgestellt wird, dann weiß der Innenminister wie immer zu berichten, dass Leipzig die “Hochburg der Linksextremisten” im Freistaat sei und dringender Handlungsbedarf bestehe, gerade in Connewitz.
Einen ersten medialen Beitrag über die Hochburg der Autonomen brachte der MDR im Juli 2015 (“Woher kommt die Wut der Linksautonomen?”). Eine Fortsetzung folgte im Januar 2016 (“Gewalt von links”), nachdem mehr als 250 Neonazis in Connewitz Menschen und Gebäude angegriffen hatten. Erwähnenswert ist auch ein unterhaltsames Video von Spiegel TV im März diesen Jahres: “Linker Ausnahmezustand in Leipzig”.
Andernorts versuchen sich parteipolitische Akteure, beispielsweise der Berliner Landesabgeordnete Tom Schreiber (SPD) oder die Bremer SPD-Fraktion, längst mit dem Thema zu profilieren. In Bremen etwa wartete eine große Anfrage der SPD an den Senat unter dem Titel “Angriffe gegen Polizeibeamte: Punkten mit Randale?” mit spannenden Fragen auf wie:
- “Wie schätzt der Senat die auf der Internetseite ‚linksunten.indymedia.org‘ beworbene ‚Randale-Bundesliga‘ ein, und gibt es darüber hinausgehende polizeiliche Erkenntnisse zu diesem oder ähnlichen Rankings?”
Derartige Fragen diskutiert auch die Leipziger SPD auf höchster Ebene. So fand am 14. April an der Universität Leipzig eine Veranstaltung mit Oberbürgermeister Burkhard Jung und Polizeipräsidenten Bernd Merbitz zu dem Thema “Hat Leipzig ein Gewaltproblem?” statt.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz widmete in seinem Newsletter dem “gewaltorientierten Linksextremismus” in Leipzig kürzlich ebenfalls einen Artikel. Nach Aussages des Amtes entfallen auf Berlin, Hamburg und Leipzig “rund ein Viertel des gewaltorientierten Personenpotenzials in Deutschland”. Dort heißt es auch:
- “Stärke und Aggressionsniveau der Leipziger ‚Szene‘ gründen auf einem Bündel von soziokulturellen und strukturellen Faktoren sowie günstigen Rahmenbedingungen. Leipzig verfügt im Unterschied zu vielen anderen Städten insbesondere mit Connewitz über ein ausgeprägtes Szeneviertel mit einem vielfältigen Milieu und einem dicht geknüpften Netz an entsprechenden Politkneipen, Szeneläden und Szeneobjekten. Diese Objekte dienen gewaltorientierten Linksextremisten als Anlaufpunkte.”
Auch die Fanszenen des Roten Stern und der BSG Chemie werden wieder einmal von den Schlapphüten erwähnt:
- “Die Szene ist in der Lage, anlassbezogen für herausgehobene Aktionen weiteres Personenpotenzial – bis in dreisteilliger Höhe – zu mobilisieren. Zudem existieren in Leipzig zwei Fußballvereine mit besonders aktiven Fangruppierungen (‚Ultras‘): Roter Stern Leipzig und BSG Chemie Leipzig. Ein erheblicher Teil der ‚Ultras‘ beider Vereine ist auch für linksautonome Aktionen mobilisierbar.”
Die Diskussion um das Social Center in Leipzig ist der Behörde wohl entgangen. So glaubt sie zu wissen:
- “In Leipzig funktioniert die szeneinterne Kooperation besser als andernorts. Dies liegt zum einen daran, dass die ‚Szene‘ in Leipzig weniger in abgeschotteten Gruppen wirkt, sondern fast ausschließlich in informellen Personenzusammenschlüssen, die vielfach miteinander kooperieren. Zum anderen liegt es aber auch daran, dass es weniger interne Differenzen gibt als in den ‚Szenen‘ anderer Großstädte: Inhaltliche sowie strategische Differenzen, wie zum Beispiel andernorts im ‚antiimperialistischen‘ Spektrum oder zwischen ‚Antideutschen‘ und ‚Antiimperialisten‘ existieren in Leipzig nicht.
Letztendlich sei die linksautonome Szene Leipzigs auch aufgrund der starken Neonaziszene in Sachsen so ausgeprägt, habe also eine Art Standortvorteil, denn:
- “Letztendlich verfügt die Leipziger ‚Szene‘ auch über besonders kampagnenfähige und zugkräftige Mobiliserungsthemen. Insbesondere die Aktivitäten von tatsächlichen oder vermeintlichen Rechtsextremisten im öffentlichen Raum sowie der bundesweit – gerade auch in Sachsen – massive Anstieg an Gewalttaten gegen Asylbewerber und ihre Unterkünfte gehören zu den wichtigen Mobilisierungsthemen von gewaltorientierten Linksextremisten in Leipzig.”
Innenminister von Sachsen feiert ein “Umdenken” in Leipzig
In einem Interview vor dem heute erschienen VS-Bericht freut sich Innenminister Markus Ulbig:
- “Es ist ein Diskussionsprozess in Gang gekommen, der sehr positiv verläuft. Inzwischen finden regelmäßige Treffen von Fachleuten statt. Auch ich tausche mich mit Oberbürgermeister Jung zur Situation in Leipzig aus. Diese Entwicklung zeigt eine neue Qualität. Ich stelle außerdem ein Problembewusstsein fest, dass es lange nicht gegeben hat. Und, die Diskrepanz zwischen Kritisieren und Verantwortung übernehmen wird zusehends kleiner.”
Dabei schießt er sich natürlich wieder auf Connewitz ein:
- “Es geht dabei nicht nur um Polizei und Repression, sondern zum Beispiel auch um neue soziale, bis hin zu städtebaulichen Ansätzen. Man muss ganz allmählich dafür sorgen, dass bestimmte Stadtteile sich verändern, nicht abgeschottet existieren können. Konkret in Leipzig ist da schon etwas in Gang gekommen, und das muss kontinuierlich fortgesetzt werden. Es gab in der Messestadt einige Fehlentscheidungen, die bis in die 1990er Jahre zurückreichen, und die vermeintlich autonome Strukturen und gewisse Fehlentwicklungen begünstigt haben.”
Das alles klingt sehr nach den alten “Lösungsansätzen” von der AG “Stadtentwicklung” des Kriminalpräventiven Rates der Stadt Leipzig.
Die einzige richtige Antwort auf diese Ansage vom Innenministerium formuliert das Bundesamt für Verfassungsschutz in Bezug auf Leipzig:
- “Es ist zu erwarten, dass die ‚Szene‘ auch künftig versuchen wird, Leipzig und vor allem Connewitz als ‚Freiraum‘ zu verteidigen. ‚Freiräume‘ sind unter anderem autonome Wohnprojekte, in denen ‚herrschaftsfreie‘ und selbstbestimmte Lebensformen praktiziert werden können – inklusive der Negierung des staatlichen Gewaltmonopols. Das Aggressions- und Eskalationspotenzial hierfür ist jedenfalls vorhanden.”
Text zugesandt von: anonym