Extremer Holzweg

Extremismustheoretiker haben ein neues Jahrbuch vorgelegt. NSU-Verharmlosung, gefälschte Marx-Zitate, billige Hitlervergleiche und Interpretationshilfen für „linksextremistische Hassmusik“ werden mitgeliefert.

Kürzlich ist mit leichter Verspätung ein neuer Band des Jahrbuchs „Extremismus & Demokratie“ (E&D) erschienen. Es ist seit 1989 die wohl wichtigste Plattform für die Propagierung der so genannten Extremismustheorie, dafür bürgen die sattsam bekannten Herausgeber Eckhard Jesse und Uwe Backes. Einen Eigenwert hat ohne Zweifel der breite Überblick über die aktuelle Fachliteratur. Die Lektüre kann darüber hinaus lohnen: Nicht nur, weil das Jahrbuch als Theorieteil der „angewandten“ Extremismustheorie der Jahresberichte der Verfassungsschutz-Ämter gelesen und als dessen Stichwortgeber verstanden werden kann. Sondern auch, weil sich die Epigonen der Extremismustheorie hier zunehmend mit ihren KritikerInnen auseinandersetzen (müssen).

Mittlerweile sind gar seichte Anflüge von Selbstkritik (oder -verleugnung) zu erkennen. Das ist gewiss ein Verdienst der zunehmenden Problematisierung ideologischer Grundannahmen der Extremismustheorie, die „Rechtsextremismus“ und „Linksextremismus“ eine strukturelle Ähnlichkeit unterstellt – beide würden schließlich den „demokratischen Verfassungsstaat“ bekämpfen. Das Jahrbuch selbst zeigt, wie sehr die Extremismustheoretiker damit auf dem Holzweg sind.

Den Rechtsterrorismus beschweigen

Dass schon die Grundannahme durch ständige Wiederholung nicht wahrer wird, zeigt das Beispiel „Nationalsozialistischer Untergrund“. Dessen Anschläge galten nicht dem „demokratischen Verfassungsstaat“, sondern hauptsächlich MigrantInnen. Die systematische Ausblendung oder Verharmlosung der rassistischen Praxis deutscher Nazis (und ihrer Sympathisanten) durch Sicherheitsbehörden kommt als gewichtiger Grund für die Nicht-Aufklärung der so genannten „Ceska-Mordserie“ infrage. Vielleicht ist das zugleich ein Grund, warum sich das neue Jahrbuch nur am Rande mit dem NSU beschäftigt. Es scheint schon in der vergangenen Ausgabe abgegolten worden zu sein durch einen Beitrag des Politikwissenschaftlers Armin Pfahl-Traughber. Er war selbst jahrelang Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), ist jetzt Ausbilder für Verfassungsschützer und hat sich in seinen jüngeren Publikationen zu einem ihrer eifrigsten Verteidiger aufgeschwungen.

Im E&D-Jahrbuch 2012 kam Pfahl-Traughber zu dem Schluss, dass der NSU von Sicherheitsbehörden wegen des angeblich neuartigen Ausbleibens von Bekennerschreiben nicht habe erkannt werden können. Dass das keineswegs neuartig ist und nur schwerlich über die Fehlleistungen von Polizei und VS-Ämtern hinwegtäuschen sollte, kann Pfahl-Traughber mittlerweile dem Abschlussbericht des Bundestags-Untersuchungsausschusses entnehmen. Dazu verliert das neue Jahrbuch aber kein Wort, Rechtsterrorismus bleibt – wie vor dem Auffliegen des NSU – ein Randthema. Die Rückkehr zum „business as usual“ kommt nun im Editorial (S. 7ff.) der Herausgeber zum Ausdruck: Wünschenswert sei, „die NSU-Diskussion gäbe Anstoß für die Entwicklung neuer Forschungsprojekte. Diese sollten sich nicht auf einzelne Akteure konzentrieren, sondern der Gewaltdynamik stärkere Beachtung schenken, wie sie aus der Wechselwirkung und den Interaktionen extremistischer Szenen entsteht. Besondere Beachtung verdient die oft vernachlässigte Konfrontationsgewalt zwischen ‚rechts’ und ‚links’ motivierten Gewalttätern.“

Der NSU erklärt sich aus „Interaktionen extremistischer Szenen“ jedoch in keiner Weise. Eine ähnliche Behauptung war bisher einzig in einem im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung erstellten „Erklärvideo“ („Was ist Extremismus?“) aufgestellt worden. Darin hieß es wörtlich: „Es herrscht Bombenstimmung in Deutschland. Die Linken fackeln Luxuskarossen ab und die Rechten kontern mit den sogenannten Döner-Morden.“ Das Machwerk musste nach heftiger Kritik umgearbeitet werden – die E&D-Herausgeber haben das nicht zur Kenntnis genommen. Falsch ist auch ihre Behauptung, so genannte „Konfrontativgewalt“ werde zu wenig beachtet: Das BKA hat im Jahr 2005 eine (nie veröffentlichte) Studie zum Thema erstellt. Die plumpe These, dass sich „Extremisten“ gegenseitig aufschaukeln, findet sich seitdem in jedem beliebigen Verfassungsschutz-Bericht. Das ist nicht verwunderlich, denn es folgt, wie gesagt, geradewegs aus den Grundannahmen der Extremismustheorie. Schlaglichter darauf werfen weitere E&D-Beiträge, von denen hier nur einige besprochen werden können.

Nur nichts auf die Mitte kommen lassen

Gleich im ersten E&D-Beitrag (S. 13ff.) setzt sich Jesse mit den so genannten „Mitte“-Studien der Leipziger Forschergruppe Oliver Decker, Elmar Brähler und Johannes Kiess auseinander. Die hatten ermittelt, dass jeder sechste Ostdeutsche ein „geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild“ aufweist. Jesse scheint das völlig überzogen. Ein Teil seiner methodischen Einwände gegen mögliche – und abstellbare – Mängel der Erhebung ist tatsächlich bedenkenswert. Allerdings bezweifelt er beispielsweise auch, dass Zustimmung zu der Aussage, die Bundesrepublik sei „durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maße überfremdet“, tatsächlich als Beleg für Ausländerfeindlichkeit herangezogen werden könne. Für was denn sonst?

Noch abwegiger ist die Behauptung, dass die Aussage „Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“ nichts mit dem Wunsch nach einer rechten Diktatur zu tun habe. Jesse vermutet, dass dieser Aussage auch Menschen zustimmen würden, die den „Maximo Lider in Kuba“ – also Fidel Castro – verehren; und genau deswegen würden sich überproportional viele Ostdeutsche (12,4 Prozent) einen „Führer“ wünschen. Man kann wohl getrost davon ausgehen, dass hierzulande niemand fordert, Castro solle Deutschland (!) „mit starker Hand“ regieren, abgesehen davon, dass das sein Gesundheitszustand nicht zulässt. Jesse hält die Ergebnisse der Mitte-Studien jedenfalls für absichtlich überzogen („Popanz“). Zudem bemängelt er die „prinzipielle Leugnung linksextremistischer Einstellungspotentiale“, die aber ganz einfach nicht Gegenstand der Studien sind. Da Jesse diesen Studien gar ein „antifaschistisches Forschungsdesign“ und einen „antikapitalistische[n] Duktus“ unterstellt (einziger konkreter Beleg ist übrigens der Gebrauch des Wortes „Krise“), darf angenommen werden, dass er die Leipziger Forschergruppe selbst für „Linksextremisten“ hält.

Was dagegen stimmt und Jesse vermutlich besonders wurmt ist, dass die Leipziger Forschergruppe versucht, sich gegen den Extremismus-Begriff abzugrenzen. Das beruhe nach Jesse darauf, dass man die (sprich: seine) Extremismustheorie nicht verstanden habe: Fälschlich würde immerzu problematisiert, dass die gesellschaftliche „Mitte“ idealisiert werde. Das geschehe keineswegs, versichert Jesse. Dabei hat ausgerechnet sein Kollege Uwe Backes genau das ausführlich getan – nachzulesen unter anderem im E&D-Jahrbuch 2006. Eher dürfte das Missverständnis hier auf Jesses Seite liegen: Er bestreitet, dass „rechtsextremistische“ Einstellungen in die „Mitte“ vorgedrungen seien. Nur ist das nicht der Punkt, sondern: Autoritäre, rassistische und nationalistische Einstellungsmuster sind in der gesellschaftlichen Mitte und namentlich auch unter DemokratInnen ganz unabhängig von so genannten „Extremisten“ verbreitet. Für die Extremismustheorie jedoch, in der „Extremismus“ den Gegenbegriff zur Demokratie – also: Nicht-Demokratie – darstellt, ist diese Erkenntnis logischerweise ein Unding.

Marx fälschen…

Es folgt ein Beitrag von Barbara Zehnpfennig zum Thema „Extremes Denken“ (S. 37ff.). Die Autorin knüpft an besagtes Unding an und bezeichnet Demokratie als „beste[.] aller möglichen Staatsformen“. Besonders ulkig: Als Synonym für den demokratischen Verfassungsstaat verwendet sie „wie es üblich ist“ den eben noch von Jesse bestrittenen Begriff „Mitte“, der „Extremismus“ definiere sich schlicht als deren Negation. Wenn das stimmt, dann liegt dem Begriff „Extremismus“ ein astreiner Zirkelschluss zugrunde; dann kann es ferner nicht mehrere „Extremismen“ – etwa von links und rechts – geben, sondern nur den „Extremismus“, der in freier Wildbahn allerdings noch nicht aufgefunden wurde. Ferner widerspricht die Negations-Behauptung den Versuchen der Extremismustheorie, zwischen „weichen“ und „harten“ Formen zu unterscheiden. Negation lässt aber denklogisch nur zwei Modi zu: Entweder, eine Sache ist demokratisch, oder sie ist „extremistisch“. Ein Kontinuum voller Ein-Bisschen-Extremisten und Ein-Bisschen-Demokraten scheidet eigentlich aus.

Die Sache, die Zehnpfennig umtreibt, ist nun nicht weniger als „das Denken“, und sie selbst denkt: DemokratInnen denken in Kompromissen, „Extremisten“ sind gegen Kompromisse. Man gönnt es der erklärtermaßen nicht-extremistischen Autorin, hier selbst eine kompromisslose Unterscheidung vorzunehmen. Ferner kennt sie drei Varianten der „Kompromisslosigkeit“: Da wäre erstens die „jugendliche Neigung zum Extremismus“, denn jungen Menschen fehle es an „Erfahrung“ und „Selbstreflexion“. Als Beleg führt die Autorin ernsthaft an, dass Konservativismus „nicht zuletzt eine Frage des Älter-Werdens“ sei, denn mit zunehmendem Lebensalter werde man „milder“. Man könnte freilich ebenso gut annehmen, dass junge Menschen durch die „beste aller Staatsformen“ einfach noch nicht gründlich genug diszipliniert und dadurch noch nicht nachhaltig genug zum Kompromiss „überredet“ worden sind.

Dass die Autorin in der Tat einem autoritären Gesellschaftsverständnis anhängt und mehr Anthropologie als Politikwissenschaft betreibt, zeigt sich darin, dass sie die Gesellschaft von „extremistischen Spezies“ bevölkert sieht. Neben den Jugendlichen gebe es dann noch „Extremismus aus Perspektivlosigkeit“ und einen „ideologisch begründete[n] Extremismus“. Der letzte ist der schlimmste – namentlich handle es sich um Marxismus, Nationalsozialismus und Islamismus, denn alle folgten einem „Heilsschema“. Es bleibt das Geheimnis der Autorin, warum die „beste aller Staatsformen“ nicht genau das ist. Aber wenigstens in der nachfolgenden Beschreibung des Marxismus hätte man außerordentliche Präzision von ihr, die eine Ausgabe der „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ ediert hat, erwarten können. Ihre Marx-Exegese dient hier dem direkten Vergleich mit Hitler. Das ist wenig originell und gelingt einigermaßen schlecht, weil sie von Marx nicht viel weiß.

…und mit Hitler vergleichen

So stimmt es schlichtweg nicht, dass „aus linker Sicht alles, was ist, Folge der Klassenkämpfe“ sei. Nicht nur bezieht sich der größte Teil der Linken heute nicht auf einen dezidierten Begriff von Klassen und deren Kämpfen – sondern nicht einmal Marx hat das vertreten, was Zehnpfennig ihm unterjubeln will. Vielmehr deuten Marx und Engels anfangs des ersten Kapitels im „Manifest“ die „Geschichte aller bisherigen Gesellschaft“ als die „Geschichte von Klassenkämpfen“. Das ist keine Kleinigkeit, sondern eine grundlegend andere Aussage als die, alles nur Mögliche sei aus Klassenkämpfen gefolgt. Zehnpfennig kritisiert auch „Marxens Vorstellung von einem friedlichen Urkommunismus“ und hält „Hitlers Vorstellung von einem der Menschheit förderlichen kriegerischen Ringen der Völker bzw. Rassen“ für „sein Pendant“.

Nicht nur haben diese Aussagen nichts miteinander zu tun und sind insofern eben kein „Pendant“. Sondern der Begriff „Urkommunismus“ kommt gar nicht von Marx. Eingeführt hat ihn Friedrich Engels (wer es nachschlagen will: „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“). Und entgegen der Behauptung haben weder Marx, noch Engels es für einen tauglichen Einwand gegen den Kapitalismus gehalten, an ihm „menschliche Habsucht“ und „Gier“ zu kritisieren. Das ist einzig die anthropologische Illusion der Frau Zehnpfennig, die derart beweisen möchte, dass sich der Marxismus – wie auch der Nationalsozialismus – „von vornherein in den Bahnen des Extremen“ bewegt habe (das würde nach Zehnpfennig dann ebenso für die Sozialdemokratie zutreffen).

Der Anschein eines Beweises gelingt hier nur durch umfassendes Fälschen und Erfinden angeblich Marxscher Annahmen. Und freilich bleibt es darüber hinaus fragwürdig, ob Marx tatsächlich als „Extremist“ bezeichnet werden kann. Denn ein Gegner des demokratischen Verfassungsstaats konnte er prinzipiell, nämlich aus damaliger Ermangelung eines demokratischen Verfassungsstaates, den er hätte „negieren“ können, nicht sein. So ein blamabler Unsinn ergibt sich erst aus dem Interesse der Autorin, Marx und Hitler gleichzusetzen. Von der Demokratie weiß sie dagegen (wenn auch sonst nicht viel) – frei nach dem bekannten “Demokraten” Friedrich II. – zu berichten, dass es „jedem freigestellt“ sei, „in diesem System nach seiner Façon selig zu werden.“ Sie hätte auch schreiben können: Jedem das Seine. Man könnte kompromisslerisch zugestehen, dass durchaus jeder „selig“ werden kann. So lange er nicht zweiter Klasse zur Welt kommt.

Einen Reim auf „Verfassungsstaat“ finden

Ulrike Madest behandelt „Linksextremistische Musik in Deutschland“ (S. 136ff.), von der man vor allem erfährt, dass es sich um „Hassmusik“ handle. Denn laut Madest lasse sich „zwar kein kausaler, sehr wohl aber ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Musik mit linksextremistischen Bezügen und Gewaltanwendungen herstellen.“ Mit anderen Worten: Der Bezug ist völlig willkürlich, wie auch die Behauptung, „linksextremistische Musik“ reiche bis in die 1980er Jahre zurück. Womöglich ein Flüchtigkeitsfehler, denn die als Standard-Beispiel herangezogene Band „Slime“ wurde Ende der 1970er Jahren gegründet. Immerhin vermeidet die Autorin so das dünne Eis, auf das sich Extremismus-Leuchten wie Karsten Dustin Hoffmann begeben, die „Ton Steine Scherben“ als Gründerväter des Genres „Hassmusik“ hinstellen.

Madest verweist zwar auch auf teils längst aufgelöste Bands oder Lieder, die sie lang nicht mehr im Repertoire haben; sie verbreitert die empirische Basis aber durch weitere Bands, die selbst einem versierten Fachpublikum weithin unbekannt sein und damit der angeblichen „Hassfunktion“ kaum gerecht werden dürften. Ja, nicht einmal die Kapelle „Feine Sahne Fischfilet“ findet Erwähnung, denen die Verfassungsfeindlichkeit schon amtlich bescheinigt wurde! Stattdessen geht es um Holger Burner und Sampler etwa der Roten Hilfe oder der SDAJ. Wer darauf auftaucht, spielt bereits „Musik mit linksextremistischen Bezügen“. Eine selbstredend „gefährliche Entwicklung“, denn immerhin reproduziere die DKP-Jugend sogar (!) „Liedtexte, welche die Oktoberrevolution als ein positives historisches Ereignis“ herausstellen.

Weil die Gefahr daran sich nicht immer gleich erschließt, liefert die Autorin kleine Verständnishilfen mit. Wenn die Band „Slime“ auf ihrer Website ein „Leben ohne Unterdrückung durch den Staat“ fordert, bringt sie damit, so die Übersetzung, „die ablehnende Haltung gegen den Staat als ‚Repressionsapparat’ zum Ausdruck“ – ein offenbar besonders denkwürdiges Zeugnis „linksextremer“ Textproduktion, auch wenn es gar nicht aus einem Lied stammt. Wenn andere Bands die Zeile „Grün weiße Schlägertrupps missbrauchen ihre Macht“ anstimmen, würden Polizisten „nicht länger als ‚Freund und Helfer’ für den Schutz des Einzelnen“ angesehen. Und ganz und gar „entwürdigt und entrechtet“ werde der liebe „Freund und Helfer“ gewiss durch die Textzeile „Hängt die Bullen auf und röstet ihre Schwänze“. Appetitlich ist das nicht, Madest zufolge wären dann aber Die Ärzte, die den zugehörigen Song gecovert haben, eine furchtbar „linksextremistische“ Band, die „Hass gegen den demokratischen Verfassungsstaat“ schürt.

Nichts anderes betreibe übrigens der Sänger der Band „Egotronic“, der auf seiner Website eine (allerdings wiederum nicht gesungene) „Büttenrede“ vorstellt. Darin heißt es: „der dresdner war ein schlimmer finger, darum verlor er seinen zwinger“. Über Geschmack lässt sich streiten, doch daraus eine Stellungnahme gegen den demokratischen Verfassungsstaat ablesen zu wollen, erfordert eine ausgeprägte Geschichtsunkenntnis. Unterm Strich gibt die Autorin wenigstens ein bisschen Entwarnung: Eine „Einstiegsdroge“ sei „linksextremistische Musik“ nicht, entgegen ihren starken Feind- gebe es auch nur drei ausgeprägte Freundbilder, nämlich: „der kleine Mann“, „Punker“ und „Zecken“. Als Mittel gegen solche üblen Gesellen reiche es aus, so der instruktive Expertinnen-Rat, einfach weiterhin Lieder zu indizieren.

Auf Hochstapler hereinfallen

Fast die Hälfte des E&D-Bandes macht ein ausführlicher Rezensionsteil (S. 231ff.) aus. Verwunderlich ist, warum sich mit André Brie ein Politiker der Partei Die LINKE und Mitgründer der Rosa-Luxemburg-Stiftung als Rezensent hergibt, ist es doch unter den sonstigen E&D-AutorInnen Usus, dessen Partei als „linksextrem“ hinzustellen. Ein anderer Rezensent ist Hans-Gerd Jaschke, den der schon erwähnte Pfahl-Traughber in der Jahrbuch-Ausgabe für 1992 ausführlich gerüffelt hatte (natürlich wegen Kritik am Extremismusbegriff). Jetzt ist Jaschke scheinbar auf Linie und bespricht einige Neuerscheinungen zum NSU – und fungiert damit vor dem Hintergrund der sonstigen Nichtbehandlung als honoriger Alibigeber. Allerdings gelingt selbst das nur mangelhaft: Am meisten gelobt wird die „eindrucksvolle“ Autobiografie des EXIT-Aussteigers Manuel Bauer („authentisch und reflektiert“). Bauer reüssiert seit dem Auffliegen des NSU als Autor, Talkshow-Gast und Referent. Sogar Polizeibeamten durfte er schulen.

Das Problem mit Bauer ist, dass es sich um einen Hochstapler handelt. Seine Biografie ist konstruiert: Die „rechtsterroristischen Gruppen“, denen er angehört haben will, kennt ausnahmslos nur er selber und von den Straftaten, an denen er beteiligt gewesen sein will, findet sich nirgends eine Spur. Es stimmt, dass Bauer im Gefängnis saß und dort Kontakt mit der EXIT-Initiative aufnahm. Allerdings saß Bauer entgegen eigenen Behauptungen nicht wegen einer politisch motivierten Straftat ein. Dass Bauer insofern wenig bis nichts zu berichten hat, hätte Jaschke beim Lesen seines Buches auffallen können. Vielleicht hat sich Jaschke hier in Subversion versucht. Vielleicht erklärt sich das überschwängliche Lob für Bauer aber eher dadurch, dass er – im Gegensatz zu fast allen anderen besprochenen Büchern zum NSU, die nicht von Hochstaplern stammen – auf eine ausführliche Kritik der Sicherheitsbehörden inklusive der von ihnen angewandten Extremismustheorie verzichtet.

Wer es nicht tut, handelt sich gleich ein paar Seiten weiter Schelte durch Viola Neu ein, die daran erinnert, dass „‚kritische’ Wissenschaftler eine Eigenetikettierung meist prosozialistischer Wissenschaftler war und ist, die den demokratischen Verfassungsstaat gern ‚überwinden’ wollten“. Ebenso hatte Jesse ja eingangs die Leipziger „Mitte“-Studien abgewatscht: Einfach mal einen „Linksextremismus“-Verdacht streuen (so wiederfuhr es in der vergangenen E&D-Ausgabe schon dem Forum Kritische Rechtsextremismus-Forschung). So ein Vorwurf enthebt im Zweifelsfall von einer weiteren Auseinandersetzung, wie nun endlich wieder Pfahl-Traughber zeigen darf: Auf die „politische Dimension“ des 2012 erschienenen Sammelbandes „Verfassungsfeinde? Wie die Hüter von Denk- und Gewaltmonopolen mit dem ‚Linksextremismus’ umgehen“ mag er „nicht näher“ eingehen und weist Thesen aus dem Buch „allein schon aus der Perspektive des ‚gesunden Menschenverstandes’ zurück“. Im übrigen bedienten sich die Kritiker des Linksextremismus-Begriffs einer „klassischen Manipulationstechnik“ und hätten schon wieder die Extremismustheorie nicht verstanden.

Dem „Verfassungsschutz“ keine Fragen stellen

Ein Highlight für sich ist schließlich die von Birgit Enzmann niedergeschriebene Rezension (S. 354) des Verfassungsschutzberichts des BfV für das Jahr 2011. Ausführlich würdigt sie die detaillierten Angaben des BfV zur Entwicklung der „politisch-motivierten Kriminalität“ (PMK). Leider fällt Enzmann die Frage nicht ein, warum das BfV mit PMK-Zahlen um sich schmeißt. Denn der „Verfassungsschutz“ ist überhaupt nicht für Kriminalität zuständig, die PMK-Zahlen sind eine Zählung der Polizei. Seit Jahren werden diese Werte aus der polizeilichen Kriminalstatistik herausgenommen und ersatzhalber in den VS-Berichten veröffentlicht. An Aussagekraft gewinnen sie dadurch nicht unbedingt, ohnehin handelt es sich nur um eine Eingangsstatistik.

Unwidersprochen bleibt auch die Behauptung des BfV, der NSU sei als „Kleingruppe ohne feste Bindung an eine der größeren Organisationen […] durch das Raster der Verfassungsschützer“ gefallen. Eine banale Zwecklüge, denn sehr wohl hatten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sowie ihre etlichen Unterstützer eine enge Bindung an gleich zwei „größere Organisationen“ mit jeweils dreistelliger Mitgliederzahl: den „Thüringer Heimatschutz“ und das „Blood & Honour“-Netzwerk. Bezüge zur NPD sind mittlerweile auch Bestandteil des gegen die Partei gerichteten Verbotsantrags. Die aus solchem Anlass passende Frage an den VS-Bericht wäre gewesen, wie der Geheimdienst zu der hanebüchenen, nie belegten und trotzdem über Jahre hinweg immer aufs Neue bekräftigten Behauptung kam, in Deutschland gebe es keinen Rechtsterrorismus. Allerdings würde durch diese Frage sichtbar, wie grundfalsch die üblichen E&D-AutorInnen – teils in Personalunion mit dem „Verfassungsschutz“ – lagen, die das ungeprüft nachgeplappert haben.

Auch das macht die Reihe „Extremismus & Demokratie“ wertvoll: Die Bände sind seit je eine Dokumentation des Verharmlosens und Versagens, vielfach auch des Schweigens vor rassistischer Gewalt. Wer sich davon überzeugen mag, kann sich eine oder auch mehrere Ausgaben aus dem Handel aneignen (auf den hohen Kaufpreis ist der demokratische Verfassungsstaat ja nicht angewiesen) oder sich für Ostern vornehmen, die Bestände aus der nächstgelegenen Uni-Bibliothek gut zu verstecken. Das erhöht zudem die Chance auf einen fundierten Beitrag im kommenden Jahr über ein bisher wenig beachtetes Phänomen: den Diebstahlsextremismus.


Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Hg.) (2013): Extremismus & Demokratie. Jahrbuch, Band 25. Baden-Baden: Nomos. – Hardcover, 488 Seiten, 59 Euro.


Text zugesandt von: promovierte LinksextremistInnen