Anfang des Jahres 2001 spaltete sich die radikale Linke in Leipzig in zwei Flügel: Eine Politik- und eine Kritik-Fraktion. Die einen traten auf der Stelle und sahen ihre bisherige antifaschistische Praxis zunehmend vom Staat vereinnahmt. Den anderen war das aufgefallen und sie folgerten, dass jede noch so radikale Bewegung ihre Radikalität dadurch einbüßt, dass sie “konstruktive” Politik betreiben muss und dadurch die Gesellschaft nicht grundsätzlich hintertreiben kann. Von dem Konflikt zeugen ganzen Jahrgänge der lokalen Szenepostillen CEE IEH und Incipito.
Eine Klärung war nicht gewünscht und bald schon nicht mehr möglich: Das Diskussionsniveau regredierte zur bloßen Polemik, und nicht zufällig nahm sich die Kritik-Fraktion, die sich über “Leipziger Verhältnisse” echauffierte, ein Beispiel an der ultra-antideutschen und distinktionsgeübten “Bahamas”, die man unter “Berliner Verhältnissen” längst triumphieren sah.
Entscheidender war freilich, dass beide Fraktionen nur noch in ihren Verfallsformen fortwesen konnten: Den einen genügt es heute, gelegentlich ihren “Stachel der Kritik” (Martin Dornis) zum Beweis überlegener Gelehrsamkeit ihres Zirkelwesens nachzumessen. Die anderen, die Bewegungslinken, treten noch immer auf der Stelle, wo es gelten würde, ihre Praxis zu vermitteln. Sei es, weil sie offen theoriefeindlich sind. Sei es, weil ihre Praxis nun einmal kein anderes theoretisches Fundament hat als die heute Interventionismus genannte Verwechslung des selbstproduzierten Demonstrationsgeschehens mit sozialen Kämpfen.
Klarheit vor Einheit!
Einigermaßen überraschend kam Ende vergangenen Jahres die Eröffnung des Projekts “translib” in Leipzig-Lindenau, das eine Bibliothek aufbauen und als “communistisches Labor” fungieren will. Kürzlich hat translib einen längeren theoretischen Versuch (“Umrisse für ein Kritikprogramm”) nachgeschoben, das in acht Kapiteln grundsätzliche Fragen eines revolutionären Standpunktes gegen Kapital und Staat aufwirft, oder im Jargon: “Bedingungen einer theoretisch-praktischen Assoziation in communistischer Absicht”.
Dass es um Fragen, (noch?) nicht um Antworten geht, charakterisiert den Text durchgängig. Leider auch insofern, als er durchgängig zwischen Kritik und Politik laviert: Wo pathetisch-hypothetische Kämpfe angesprochen werden, die aus der Klassengesellschaft herausführen sollen, werden diese Kämpfe schon in der Einleitung unter den Vorbehalt gestellt, dass man nicht sie, sondern einen “Forschungsprozess” über sie führen will. Das war vielleicht nur die hochgestochene und den Namen des Erfinders tunlichst vermeidende Umschreibung des Leninschen Imperativs, dass Klarheit vor Einheit kommt, also ein Klärungsprozess nötig ist.
Vielleicht ist das aber auch oder stattdessen als Hinweis darauf zu verstehen, wessen Klassenstandspunkt translib einnimmt, wenn sie über die Klassengesellschaft redet. Namentlich geht es nicht ums Proletariat – geklagt wird über die vermehrte “Anpassung der Wissenschaft an die unmittelbaren Erfordernisse der Produktion” und eine zunehmende Proletarisierung der “wissenschaftliche[n] Intelligenz”. Die Mittellosigkeit vieler Studierender ohne reiche Eltern macht die Interessen dieser Studierenden allerdings noch lange nicht revolutionär, macht ihre Einsichten nicht einmal richtiger als alle anderen. Auch dann nicht, wenn sich diese Studierenden in einem Lesekreis im Geiste des translib-Kanons “assoziieren”.
Rundumschlag im Jargon
Im vorliegenden Falle ist derart ein theoretischer Rundumschlag entstanden, der sich an Marx auf der Höhe seiner frühen Entfremdungskritik und an der Kritischen Theorie auf der Höhe der Dialektik der Aufklärung orientiert; der Partei nimmt für links- und anarchokommunistische Strömungen und ab und zu mit Debords Situationismus liebäugelt; der über fast drei Dutzend Seiten den denkbar weitesten Bogen von der ArbeiterInnenbewegung bis zur queer theory spannt und dabei alles marxoid Sagbare sagt.
Nur, dass der Rundumschlag nicht in die Gegenwart führt und vor der Linken als dem, was sie heute ist oder irgendwann sein soll, wortlos erstarrt. Vielleicht wäre es für diese Annäherung nützlicher gewesen, die “28 Thesen zur Klassengesellschaft”, mit der die Zeitschrift “Kosmoprolet” vor sieben Jahren aufmachte, neu aufzulegen oder bestenfalls fortzuschreiben. Dem eng verwandten translib-Text ist dagegen hauptsächlich zu entnehmen, was man nicht sein und nicht tun will.
Wie man Bolschewismus besser nicht kritisiert
Vor allem will man nicht den “pseudosozialistische[n] Despotismus seit den 1920er Jahren”. Der Bolschewismus wird hier kritisiert als “eine besondere Version des Etatismus, der auf die gewaltsame Übernahme der Staatsmacht abzielte.” Der zweite Teil stimmt. Allerdings ließ Lenin in “Staat und Revolution” auch keinen Zweifel daran, wofür die Staatsmacht übernommen werden soll: Zum Niederhalten der Konterrevolution und damit zu Schaffung der Voraussetzungen, ohne die ein Absterben des Staates nicht möglich sein wird. Das Schaffen dieser Voraussetzungen ist historisch nicht weniger als die sozialistische Transformation der alten Gesellschaft, in dem Wissen, dass ein revolutionärer Aufstand allein nicht, wie es AnarchistInnen annehmen, den Kommunismus in die Welt setzen wird.
Wo die Arbeiterklasse nicht diktiert, diktiert die Bourgeoisie: Das war am Ende bekanntlich keine erfolgreiche, aber eine folgerichtige und gerade nicht irgendeine etatistische Linie.
Zurück zum bürgerlichen Glücksversprechen?
Das translib-Kontrastprogramm heißt übrigens schlicht: “Anspruch auf das individuelle Glück”, die “pursuit of happiness”. Ob das heute ein revolutionäres Programm sein kann, mag dahinstehen. Historisch gehört dieses Motto zur Epoche bürgerlicher Emanzipation, wörtlich findet es sich in der Declaration Of Independence (1776) und markiert damit gerade nicht den Ausgang aus der bürgerlichen Gesellschaft. Mit Hannah Arendt (“Über die Revolution”) kann argumentiert werden, dann der revolutionäre Gehalt des bürgerlichen Glücksversprechens, der bei Jefferson politische Formen der Selbstverwaltung einschloss, wohl nicht weniger schnell und gründlich “verraten” worden ist als die Räte in Sowjetrussland – es ist nur weniger diskreditiert und historisch ungleich wirksamer, wenn auch nur als Ideologie.
Sie wirkt auf translib, die die “pursuit of happiness” ernstlich zur Poesie verklärt und damit zu einem ästhetischen Ausdrucksmedium, das “treibende Kraft in allen bisherigen proletarischen Revolutionsversuchen” gewesen sei. In Wirklichkeit ist aber kein “proletarischer Revolutionsversuch” bekannt, der den Kapitalisten “Glück” versprochen hätte, und noch den Bolschewisten war klar, dass Revolution wegen der Kapitalisten einen jeder Ästhetisierung schwer zugänglichen Bürgerkrieg bedeutet.
Revolution ist kein Gedicht
Dagegen modelt translib die Revolution selbst zu einem poetisch-mystischen Geschäft um, das sich die Bezeichnung Romantik redlich verdient: Das Proletariat müsse ganz einfach genügend “Erkenntnis” erlangen, bis schließlich “Theorie in Emanzipationsgewalt umschlägt”. Feder schlägt Schwert, so einfach soll das sein.
Wenn man solchen Idealismus beim Worte nimmt, heißt das zunächst, dass jede Praxis ungenügend und daher zu unterlassen ist, die nicht auf ein ausreichendes Maß an Erkenntnis verweisen kann. Die Maßeinheit, in der sich eine genügende Menge an Erkenntnis ausdrücken würde, kennen wir nicht. Es klingt aber so, als sehe translib ein strenge Evaluation – wahrscheinlich durch die proletarisierte Intelligenz, also sich selbst – vor, schließlich werden soziale Kämpfe immer danach “zu beurteilen sein, ob sie sich theoretisch und praktisch als Bestandteil des Kommunismus als der wirklichen Aufhebungsbewegung des Bestehenden erweisen können.” Wenn das der Maßstab sein soll, wäre jeder bisher geführte und gedachte Kampf rundweg abzulehnen, weil – das ist unstrittig – keiner je zum Kommunismus führte. Soziale Kämpfe sind damit per se suspendiert.
Man sollte translib daran erinnern, dass soziale Kämpfe regelmäßig nicht als revolutionäre Bewegungen beginnen, sondern sie dazu werden können; und dass dieses Werden durchaus begünstigt wird, wenn solche Bewegungen praktische Erfahrung als Quelle für bessere Erkenntnis zu nutzen wissen. Der Gedanke, dass Praxis eine Quelle von Erkenntnis sein kann, dämmert translib jedoch nicht – hier läuft es nur umgekehrt. Und so besteht translib immerzu auf dem Maximalismus, dass stets zuerst die Kritik zu entwickeln sei, mit der “die grundsätzlichen Formen der kapitalistischen Vergesellschaftung” angegangen werden können und die in der Lage sei, “die Gesamtheit des bestehenden gesellschaftlichen Lebensprozesses” umzuwälzen. Von diesem perfekten Standpunkt aus will translib soziale Kämpfe “beurteilen”.
Theorie wird gegen Praxis ausgespielt
In Wirklichkeit gibt es diesen Standpunkt nicht und wenn doch, könnte keine Theorie und keine Praxis ihr genügen. Wer das weiß und nicht einräumt, um Praxis immerzu an ihrer Unvollkommenheit zu blamieren, empfiehlt unter der Hand die Resignation und den Rückzug in die Bücherstube. Vergisst man kurz die Bezüge aufs Proletariat, so schließt translib an diesem Punkt genau dort an, wo die alte Kritik-Fraktion in Leipzig aufgehört hat: Denunziation jeder Praxis, die nicht das anwendet, was im Leserzirkel vorgedacht wurde. Die Aufgabe ist schlechterdings unlösbar, weil Praxis niemals auf “die Gesamtheit des bestehenden gesellschaftlichen Lebensprozesses” trifft und sie wegputzen könnte, sondern es auf ihrer Oberfläche mit Erscheinungsformen zu tun bekommt, deren erfolgreiche Beseitigung noch lange nicht die “grundsätzlichen Formen der kapitalistischen Vergesellschaftung” ankratzt.
Prototypisch dafür war zuletzt die als Redebeitrag vorgetragene Kritik der Gruppe “The Future Is Unwritten” (und hier die Kritik der Kritik) an einer antirassistischen Demonstration im Oktober 2012: Der Vorwurf lautete, AntirassistInnen würden nicht konsequent gegen die ökonomische Basis der Gesellschaft vorgehen, die den Rassismus hervorbringt – sondern “nur” und damit fälschlich gegen den Rassismus selbst. Was dabei betrieben wird, ist ein schlichtes Ausspielen von Kritik gegen Praxis. Das hat übrigens weder der ökonomischen Basis, noch ideologischen Erscheinungen dieser Gesellschaft oder ihren TrägerInnen auch nur das Geringste an.
Zwischen Basis und Banalität
Es wird der weiteren Beobachtung lohnen, ob translib einen Ausweg findet oder es beim Besserwissen belässt – auch kein noch so eloquentes “Kritikprogramm” entgeht dem schmalen Grat zwischen Basis und Banalität. Das Grundsatzpapier hat zumindest genügend streitbare Fragen für Anschlussdiskussionen aufgeworfen.
Der Text ist übrigens mit “Koalitionspapier” überschrieben, doch noch ist unklar, wer da mit wem koaliert. Immerhin scheint so – anders, als bei den waschechten Nur-Noch-Kritikern – Bündnispolitik ebenso wenig ausgeschlossen wie eine künftige Behandlung der Organisationsfrage. Sie geht bisher aber nicht über den Begriff der “communistischen Assoziation” hinaus.
Text eingesandt von: Lesende Arbeiterin