Foto: http://connewitz.wordpress.com
Das hat gerade noch gefehlt!
- Am 6. Februar 2014 kehrte das städtische Bürgeramt in die Connewitzer Wiedebach-Passage zurück. Es war seit August des Vorjahres geschlossen, offenbar infolge von Sachbeschädigungen, unter denen insbesondere die Fensterscheiben zu leiden hatten.
- Angeblich summierte sich der Schaden auf mehr als 300.000 Euro. “Unerträglich”, befand Oberbürgermeister Jung. Hinter den störanfälligen Scheiben hat es sich nun die Polizei gemütlich gemacht.
- Denn unerwartet zog nicht nur das Bürgeramt, sondern gleich ein Polizeiposten ein. Eine “geniale Idee” nannte es Jung. Das Viertel wurde so vor vollendete Tatsachen gestellt, und tatsächlich sollte es bis zum Eröffnungstag, an dem sich die örtlichen Honoratioren die Klinke in die Hand gaben, niemand mitbekommen. Natürlich berichtete
leipzig.antifa.de
vorab.
- Seitdem ist der Polizeiposten ein Zankapfel geworden. Nicht nur, weil er von manchen als Provokation verstanden wird. Sondern weil er exemplarisch zeigt, auf welche Art soziale Konflikte weggedrückt werden sollen:
- Wo die Polizei von einem “Vandalismusproblem” spricht und Burkhard Jung gar von “rechtsfreien Räumen”, werden soziale Proteste – die weder Vandalismus als Ursache, noch die Wiedebach-Passagen zum Ziel haben – kriminalisiert.
Kleine Protest-Chronik
Die Darstellung beruht auf wahren Ereignissen:
Die Polizei zieht ein
Donnerstag, 6. Februar
- LVZ-Online berichtet frenetisch über die Eröffnung des Polizeipostens. Niemand Geringeres als der erregte Leipziger Volkspoli… Polizeipräsident Bernd Merbitz gibt mit einem bemerkenswerten O-Ton die Steilvorlage für spätere Satire-Aktionen: “Wir haben nichts gegen alternatives Wohnen. Mir ist es egal, wie bunt hier die Leute rumhopsen, manche finde ich sogar richtig geil.”
Freitag, 7. Februar
- Die LVZ druckt ein hochästhetisches Gruppenfoto der Beamt_innen. Es ist nicht komplett, denn schon am ersten Arbeitstag ist einer krank! Im Artikel ist von einer vorhergehenden “Serie an Anschlägen” die Rede.
8. bis 14. Februar
- Die von der Polizei erwarteten “Anschläge” bleiben aus.
Sonnabend, 15. Februar
- Interview bei Radio Blau mit einem Alexander Scheffler, Sprecher der bis dato unbekannten “Bürgerinitiative No Police District (NPD)”. Weil der Polizeiposten darin als “Hort krimineller Banden” bezeichnet wird, ermittelt die krimi… Polizei.
16. bis 18. Februar
- Noch immer keine “Anschläge”.
Mittwoch, 19. Februar
- Unter anderem bei indymedia linksunten erscheint der Aufruf zu einer Protestkundgebung gegen den Polizeiposten am Folgetag unter dem Motto “Connewitz steht auf – gegen Minderheiten-Politik im Rathaus!” Beim Lesen zeigt sich schnell, dass es sich um eine Satire-Aktion handelt. Sie persifliert recht originalgetreu eine rassistische Bürgerinitiative in Leipzig-Schönefeld.
Donnerstag, 20. Februar
- LVZ-Online hat irgendwie Wind von der Sache bekommen. Dort wird berichtet, dass mit 35 Teilnehmenden gerechnet werde. Von weiteren Prognosen wird abgesehen: “Über Verkehrsbeeinträchtigungen rund um das Connewitzer Kreuz liegen keine Informationen vor.”
Erste Protest-Aktion sorgt für Wirbel
Freitag, 21. Februar
- Showtime! Kundgebung gegen den Polizeiposten am frühen Abend mit 200 bis 300 Teilnehmenden. Berichte dazu hier und hier.
- Kurz zuvor erklärt die Leipziger Internet-Zeitung, dass es sich um eine “fragwürdige Satire” handle. Endlich sagts mal einer!
- Hinterher berichtet LVZ Online von entblößten Hinterteilen und Tamponwürfen auf behelmte Polizist_innen.
- Die Polizei erklärt die Aktion in einer peinlichen Pressemitteilung, in der ein gewisser “Tucholski” zitiert wird, zu einer “Peinlichkeit” (Achtung, Polizei-Link).
- Da die LVZ der Polizei vertraut, korrigiert sie die Zahl der Teilnehmenden stillschweigend nach oben.
Sonnabend, 22. Februar
- In der LVZ ist nun von einem “Aufmarsch” mit “mehr oder weniger lustigen Transparenten” die Rede.
- BILD gibt den Betroffenen eine Stimme und bringt eine rührselige Home-Story über das “Mini-Revier” (das kein Revier ist, sondern der Außenposten eines Reviers). Ein Mini-“Revier”-Beamter sagt: “Wir rechnen jeden Tag mit einem Anschlag!” Allein am ersten Wochenende nach der Eröffnung sei es zu “zehn Angriffen” gekommen (die auf Nachfrage anderer Journalist_innen aber nicht aufgezählt werden können). Wenigstens sei die Demo am vergangenen Freitag “weitgehend friedlich” geblieben. Weitgehend heißt hier wohl: komplett.
- Und wenn, ging die Aggression eher von Beamt_innen aus, wie die Leipziger Internet-Zeitung bemerkt: Die Polizei brauche Nachhilfe in Sachen Pressefreiheit.
Sonntag, 23. Februar
- Die BILD legt nochmal nach und fragt: “Haben Sie was gegen Polizisten, Frau Nagel?” Denn die investigativen Springer-Spinner haben nach mehr als einer Woche ein “dümmliches, gespieltes Radio-Interview im Internet” entdeckt (siehe oben). Nun prüfe die Polizei den “Tatbestand der Beamtenbeleidigung”. Ein Blick ins Strafgesetzbuch bringt aber die Ernüchterung: Entgegen der weit verbreiteten Meinung gibt es so einen Tatbestand gar nicht.
- In einer garantiert repräsentativen BILD-Online-Abstimmung sprechen sich seitdem übrigens etwa 75 Prozent für den Polizeiposten aus. Wie viele Klicks aus der Wiedebach-Passage kamen, ist nicht bekannt.
- Bei leipzig.antifa.de kommt derweil ein_e Organisator_in der Satire-Aktion erstmals ganz im Ernst zu Wort.
Montag, 24. Februar
- Wie immer viel zu spät berichtet Leipzig Fernsehen, nicht einmal das Demo-Datum ist korrekt.
Die LINKE und ihr “Satiregate”
Dienstag, 25. Februar
- Die LVZ legt mit einem großen Artikel nach: Die örtliche Nomenklatura der Partei DIE LINKE distanziert sich von der eigenen Genossin Jule Nagel, die die Demo angemeldet hatte. Bei der LINKEN betrachte man die Polizei vielmehr als “Partner und Verbündeten”. Die Aktion sei nicht lustig, sondern “stark militant gegen die Polizei” gewesen. Ein LVZ-Kommentar nimmt den Ball auf, fabuliert von “Linksextremen” und “Krawallmachern”. Und das, obwohl die LVZ vormals wusste, dass die Aktion “weitgehend friedlich” verlaufen sei (siehe oben).
- Die Front Deutscher Äpfel solidarisiert sich prompt mit der Aktion.
- Für kommenden Freitag wird bei indymedia linksunten eine neue Aktion angekündigt, diesmal eine Menschenkette zum Schutz der Polizei (vor “Anschlägen” und dergleichen).
Mittwoch, 26. Februar
- Ein Beitrag im Freitag bietet eine treffende Draufsicht auf das, was nun schon “Provinzposse” geworden ist.
Donnerstag, 27. Februar
- Die LVZ Online hat “indymedia linksunten” gelesen und kündigt die kommende Lichterkette an. Berichtet wird auch über ein Schaulaufen im Polizeiposten: Abordnungen verschiedener Parteien schauten bei den Beamt_innen auf einen Kaffee vorbei.
- leipzig.antifa.de interviewt den Leipziger LINKEN-Chef Volker Külow. Der entschärft einige Aussagen aus der LVZ. Aber es bleibt weiter unklar, welche Verfehlungen der Anmelderin der friedlichen Kundgebung vorgeworfen werden.
- Derweil die Schlagzeile bei indymedia linksunten: “Telefonat zwischen LVZ und Volker Külow geleakt”. Dargestellt wird eine weitere Variante, wie die Distanzierung in die LVZ gekommen sein könnte.
- Das Stadtmagazin Kreuzer fasst das bisherige Geschehen in etwa so zusammen: Nachdem eine Protestaktion in Connewitz weitgehend völlig friedlich verlaufen ist, sind jetzt ganz schön viele Leute gekränkt.
Zweite Protest-Aktion
Freitag, 28. Februar
- “Die umstrittene Protestsatire am Connewitzer Polizeiposten wird fortgesetzt”, berichtet die LVZ-Printausgabe. Hinter der neuerlichen Aktion stehe die “Connewitzer Dorf Union” (CDU). Külow zur LVZ: “Über die aktuelle Demo weiß ich nichts, wichtig ist nur, dass Juliane dieses Mal nicht dabei ist”.
- Am Abend versammeln sich vor dem Polizeiposten 200 Menschen zur stillen Andacht und einer Lichterkette um die Wiedebach-Passage. Ein Kranz zum Andenken aller zerstochener Streifenwagenreifen wird niedergelegt. Da der Kranz auf der falschen Straßenseite liegt, fertigt die Polizei eine Ordnungswidrigkeitenanzeige, denn: Ordnung muss sein!
- Bei Radio Blau verspricht zeitgleich Martin Sonneborn, Spitzenkandidat der Partei DIE PARTEI für die Europawahl, den Abriss der “Polizeinotunterkunft”.
- LVZ Online: Alles friedlich. Die Zahl der Teilnehmenden habe nicht gereicht, einen Kreis zu schließen – das war der Veranstaltung unter Androhung weiterer Ordnungswidrigkeitenanzeigen (s.o.) eh nicht erlaubt. Der Artikel erscheint am Folgetag in der Printausgabe leicht gekürzt, aber erweitert um Anführungsstriche um das Wort “Satire”.
Zum Nachlesen & Nachdenken
- Der Polizeiposten ist als
#polizeipfosten
zum Gespött geworden,…
- …die spaßfreie Reaktionen auf die polizeikritischen Aktionen als
#satiregate
#satiregate
-Timeline bei Storify mit vielen Medienartikeln und Reaktionen aus sozialen Netzwerken
- Beitrag der IG Rotes Viertel Connewitz bei
leipzig.antifa.de
: Warum soziale Kämpfe im Stadtteil wichtig bleiben – und sich nicht an der Polizeistation aufreiben sollten
- Darstellung zu den Ereignissen in Connewitz von Juliane Nagel, inklusive kritischer Auseinandersetzung mit Reaktionen aus der Partei DIE LINKE.
- Leak: Polizei-Zwischenbericht für den Kriminalpräventiven Rat (KPR) der Stadt Leipzig betreffs Stadtteilentwicklung in Connewitz (PDF-Datei, Stand: Februar 2013). Übrigens: Nach dem Scheitern des “Quartiersmanagements” ist die “AG Stadtteilentwicklung Connewitz” im KPR Anfang 2014 aufgelöst worden.