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Die Bürokratie des Bösen

Niemand muss Ausländerbehörde sein!

Broschüre Die Bürokratie des BösenWir haben uns 2020 auf den Weg gemacht, unsere antifaschistische Perspektive auf antirassistische Kämpfe in der BRD und weltweit (erneut) zu reflektieren. Das erachten wir vor dem Hintergrund der aktuellen, zunehmend offen rassistisch erstarkenden Lage, als notwendig. Im Zuge unserer Auseinandersetzung haben wir über bestehende Kämpfe nachgedacht, an denen wir als Gruppe
oder als Einzelpersonen seit Jahren beteiligt sind.
Um unsere Praxen und Ansätze weiter zu entwickeln haben wir außerdem Gespräche, Diskussionen und bestehende Zusammenarbeit mit migrantisierten Genoss_innen Revue passieren lassen. Dabei sind Gedanken zu einer antifaschistischen Perspektive auf antirassistische Politiken entstanden, die wir mit einer 44-seitigen Broschüre mit euch teilen wollen.

Broschüre als PDF (3,4 mb)

Nach und Nach wird die Broschüre auch auf der Homepage zu lesen sein

Kampagne "Bürokratie des Bösen

Debattenbeitrag Rechte Gesinnungstäter


Die Bürokratie des Bösen

Niemand muss Ausländerbehörde sein!

Inhaltsverzeichnis:

Broschüre Die Bürokratie des BösenWeil Herrschaft auch aus Wörtern spricht: Wörter von Ally bis Zi.

Nazis morden, der Staat schiebt ab

Historische Spurensuche

Der rassistische Apparat

Plakat "Die Bürokratie des Bösen: der rassistische Apparat"

Bürokratie oder die Banalität des Bösen in der Ausländerbehörde

Widerstand und Repression

Globale Kontrolle von Bewegungsfreiheit

Antirassistische Solidarität muss antifaschistische Praxis werden

Kein Vergeben, kein Vergessen: rechte Gesinnungsmörder stoppen und Rassismus bekämpfen


Weil Herrschaft auch aus Wörtern spricht: Wörter von Ally bis Zi.

Sprache als rassismuskritisches und feministisches Handwerkszeug

Worte sind nicht einfach nur Worte. Sie reproduzieren Machtverhältnisse; sie können verletzen und Menschen abwerten. Sie helfen aber auch dabei, die derzeitigen Verhältnisse beim Namen zu nennen; sie können uns verbinden und wir können uns durch sie als Allies (Verbündete) solidarisch zeigen – sie können also kleine Stellschrauben auf dem Weg in eine andere Gesellschaft sein.
Wir haben uns bemüht, in dieser Broschüre sensibel mit Sprache umzugehen, z.B. bestimmte Begriffe zu nutzen oder eben auch nicht. Das ist für uns Teil rassismuskritischer und feministischer Praxis. Menschen in Gruppen einzuteilen und ihnen Namen zu geben ist Teil weißer Dominanz. Wir wollen daher versuchen, Selbstbezeichnungen von Menschen zu nutzen, statt ihnen Fremdbezeichnungen überzustülpen. Dass Begriffe und Selbstbezeichnungen nie von allen gleich gewählt werden, ist uns dabei bewusst. Begriffe haben eine Geschichte und sind nicht einfach von dieser loszulösen. Sie sind die Produkte von Diskussionen und Aushandlungen, die wir an dieser Stelle selbstverständlich nicht allumfassend wiedergeben können. An verschiedenen Stellen dieser Broschüre wollen wir einige Begriffe und unsere Gründe, sie (nicht) zu benutzen, erläutern. Alle Begriffe, zu denen es in der Broschüre Erläuterungen gibt, sind markiert.

Gendern
Geschlecht wird von der Gesellschaft gemacht. Es gibt viel mehr als nur zwei Geschlechter. Durch den _ meinen wir alle Geschlechter, wollen auf sie aufmerksam machen und alle Menschen ansprechen. Z.B. schreiben wir anstatt Sinti und Roma, was jeweils nur die „männlichen“ Pluralformen bezeichnet, Rom_nja und Sinti_zze. So ist deutlich, dass wir alle Geschlechter meinen. In dieser Schreibweise finden sich sowohl die „männlichen“ Pluralformen Roma oder Sinti, die „weiblichen“ Formen Sintezze oder Sintizze und Romnja, als auch alle anderen Geschlechter durch die Markierung „_“.
An einigen Stellen beschäftigen wir uns in dieser Broschüre mit dem historischen Faschismus und mit aktuellen Neonazis. Da diese in ihrem Weltbild und ihrer Identität eine Geschlechtervielfalt jenseits von Mann und Frau ablehnen und aktiv bekämpfen, nutzen wir in ihrem Fall den _ nicht, sondern gendern mit dem sogenannten binnen-I, also zum Beispiel „FaschistInnen“.

 

Migrantische und migrantisierte Menschen
Wenn wir ganz allgemein Menschen benennen wollen, die in Deutschland von Rassismus betroffen sind, sprechen wir von migrantisierten Menschen. Gerade im deutschen Kontext halten wir den Begriff für passend, da Rassismus hier stark über die Zuschreibung des „migrantisch-Seins“ und damit angebliches „nicht-deutsch-Seins“ funktioniert. Die Zuschreibungen des „Migrantisch-Seins“ bedeutet nicht notwendigerweise, dass Menschen tatsächlich „Migrant_innen“ sind; also Personen, die nicht in dem Land leben, in dem sie geboren wurden. Im Gegenteil ist es in rassistischen Debatten in Deutschland oft eine Strategie, Menschen als Migrant_innen zu bezeichnen und dadurch als „nicht-deutsch“ zu markieren. Damit wird versucht, Ausschlüsse aus der weißen Dominanzgesellschaft zu legitimieren. Um diesen rassistischen Zuschreibungsprozess des migrantisch-Machens in den Vordergrund zu stellen, sprechen wir von „migrantisiert“ anstatt von „migrantisch“.
Dennoch wird „migrantisch“ oder „Migrant_in“ auch als Selbstbezeichnungen genutzt. Manchmal wird es synonym genutzt zu dem, was wir in dieser Broschüre als „migrantisiert“ bezeichnen, also um eine gemeinsame Rassismuserfahrung und bestimmte Position in der Gesellschaft deutlich zu machen. Manchmal meint „migrantisch“ aber die tatsächliche eigene Migrationserfahrung. Da wir nicht aus eigener Erfahrung sonder über Menschen sprechen, wählen wir den Begriff migrantisiert, wenn wir die Rassismuserfahrung meinen, und sprechen von migrantisch, wenn es uns konkret um Menschen mit eigener Migrationserfahrung geht.

 

Rechte Gesinnungsmörder
Mit dieser Bezeichnung meinen wir einen neuen Typus von rechten Mördern und von rechten Mord-Taten. Diesen „neuen“ Typ grenzen wir von expliziten Neonazi-TäterInnen ab. Zu expliziten Neonazi-TäterInnen zählen für uns MörderInnen wie Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhard vom sogenannten NSU, Gundolf Köhler, der das Oktoberfest verübte und Stephan Ernst, der 2019 Walter Lübcke in Kassel ermordete. Sie alle waren im Gegensatz zu den Tätern, die wir als rechte Gesinnungsmörder fassen, in expliziten Neonazi-Strukturen organisiert. Ihre Namen nennen wir, weil sie im Verborgenen agieren wollen. Wir folgen den Forderungen der Initiativen 9. Oktober Halle und 19. Februar Hanau, die Namen der Täter nicht zu nennen, da diese nach größtmöglicher Öffentlichkeit streben. Zu rechten Gesinnungsmördern gehören für uns hingegen der Mörder auf der norwegischen Insel Utøya, der Mörder der exakt fünf Jahre später in München tötete, der Mörder von Christchurch sowie die Mörder von Halle und Hanau. Alle diese Mörder waren keine Einzeltäter, auch wenn sie ihre Taten am Ende alleine ausführten. Sie stehen in einem Netz der gegenseitigen Bezugnahme aufeinander, teilen eine rechte Ideologie, die ihr Tatmotiv bereitstellt und finden ein Publikum in einer menschenverachtend ideologisierten Szene, mit der sie teilweise digital vernetzt sind. Die rechte Gesinnung als Motiv, die Öffentlichkeit und die Art der Tat als Fanal verbindet diese Mörder.
Einen ausführlicheren Texte über rechte Gesinnungsmörder findet ihr auf unserer Homepage und im Antifaschistischen Infoblatt Nr. 131.


Nazis morden, der Staat schiebt ab

Wir haben uns 2020 auf den Weg gemacht, unsere antifaschistische Perspektive auf antirassistische Kämpfe in der BRD und weltweit (erneut) zu reflektieren. Das erachten wir vor dem Hintergrund der aktuellen, zunehmend offen rassistisch erstarkenden Lage, als notwendig. Im Zuge unserer Auseinandersetzung haben wir über bestehende Kämpfe nachgedacht, an denen wir als Gruppe oder als Einzelpersonen seit Jahren beteiligt sind. Um unsere Praxen und Ansätze weiter zu entwickeln haben wir außerdem Gespräche, Diskussionen und bestehende Zusammenarbeit mit migrantisierten Genoss_innen Revue passieren lassen. Dabei sind Gedanken zu einer antifaschistischen Perspektive auf antirassistische Politiken entstanden, die wir auf den kommenden Seiten mit euch teilen wollen.
Wenn wir auf die aktuelle politische Situation schauen, kann uns angesichts der Bedrohungslage durch Staat, Neonazis und die Festung Europa auf der einen Seite Angst und Bange werden. Auf der anderen Seite sehen wir viele Kämpfe, die sich formieren. Es ist nicht die Zeit dafür, den Kopf in den Sand zu stecken. Es ist an der Zeit, wirkungsvolle Praxen gegen Rassismus, Staat und Neonazis zu entwickeln. In dieser Broschüre beschäftigen wir uns damit, weshalb antirassistische Kämpfe gerade aus einer historischen Perspektive als zentrales aktuelles antifaschistisches Politikfeld gesehen werden sollten. Wir begeben uns im Verlauf u.a. auf eine historische Spurensuche nach der rassistischen Abschiebepraxis in der BRD. Unsere antifaschistische Perspektive eröffnet uns die Möglichkeit unsere Gesellschaft und die staatlichen Strukturen nicht nur als aktuell schlimme Entwicklungen zu verstehen, sondern auf all das eben auch mit einem historischen Blick zu schauen. Dadurch wird es möglich, Kontinuitäten und Entwicklungen zu sehen und auch aus der Geschichte zu lernen. Den Kämpfen gegen Staat und Neonazis wollen wir also eine antifaschistische Tiefendimension hinzufügen: einen Blick auf den historischen Faschismus, die Rolle von Bürokratie in der systematischen Vernichtung von Menschen und die geschichtliche Entwicklung von Abschiebung und Vertreibung zeigen, welchen Geistes Kind der deutsche Staat mit seinen Migrationsgesetzen und mit seinen entsprechenden Institutionen heute noch immer ist. Wir sagen gerade auch als Antifaschist_innen müssen wir uns damit auseinandersetzen.
Mordende Neonazis sind zwar der brutalste und sichtbarste Teil von Rassismus in der deutschen Gesellschaft, aber nicht das einzige Problem. Das geben uns migrantisierte Genoss_innen, wie das BIPoC-Kollektiv (Kollektiv von Schwarzen, Indigenous und People of Colour) in Göttingen aber auch andere Einzelpersonen und Schwarze Genoss_innen/ Genoss_innen of Color seit Jahren in gemeinsamen Diskussionen zu verstehen. Der alltägliche Rassismus und der staatliche, institutionalisierte Rassismus sind besonders Teil der täglichen Ausgrenzung und Diskriminierung. Relevant für ein Klima der Ausgrenzung sind nicht nur gefährliche Neonazinetzwerke inklusive Teilen des Verfassungsschutzes, sondern auch der tief verankerte Rassismus im deutschen Staatsapparat. Für uns als Antifa heißt das, dass wir nicht erst aktiv werden müssen, wenn Neonazis Menschen ermorden, sondern dass wir auch dem staatlichen Rassismus immer wieder entgegen treten müssen. Wir wollen mit dieser Broschüre unsere Gedanken zu diesem Komplex in Göttingen und bundesweit für Antifaschist_innen, Antira-Aktivist@s, Migrantifas und iL-Genoss_innen genauso diskutierbar machen wie für Bündnispartner_innen, Einzelpersonen oder Menschen, die die Welt verändern wollen. Dafür konzentrieren wir uns auf die Kontextualisierung von staatlichen, institutionellen Strukturen des Rassismus in der BRD.
Wir sind eine mehrheitlich weiße Antifa, innerhalb derer die wenigsten von uns Rassismuserfahrungen machen. Das gemeinsame, geteilte Wissen ist dominiert von Blicken auf TäterInnen und Neonazistrukturen. Viele von uns stellen regelmäßig fest, dass sie eigene Rassismen im Kopf überwinden müssen. Dadurch, dass die meisten von uns nicht aus eigener Betroffenheit heraus gegen Rassismus kämpfen, fehlt uns schlicht eine Dimension im Kampf gegen Neonazis und Rassist_innen. Wir erhoffen uns somit ganz besonders eine Perspektive zu eröffnen, mit der wir für diejenigen, die von Rassismus betroffen sind, ansprechbarer bleiben oder werden. In diesem Sinne freuen wir uns auf weitere Diskussionen und kritisches und ehrliches Feedback sowie einen Austausch über und die gemeinsame Entwicklung von verschiedenen Praxen. Die großen „We‘ll come Untited“ Demonstrartionen in Berlin 2017, Hamburg 2018 und Dresden 2019 aber auch das Tribunal NSU-Komplex auflösen haben Geflüchteten-Bewegung mit Antifa- und Antira-Bewegung zusammen gebracht, um gemeinsam gegen die rassistische deutsche Migrationspolitik zu kämpfen. In diesem Sinne: Fragend schreiten wir (gemeinsam) voran!

Kein weiterer Mord!

Die Antifa-Debatten rund um den sog. Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) haben uns schmerzhaft vor Augen geführt, dass wir uns in einen engeren Austausch mit Migrant_innen und anderen Menschen mit Rassismuserfahrungen begeben müssen. Zentral war für uns im Jahr 2013 die Erkenntnis, dass schon 2006 in Kassel, nach dem NSU-Mord an Halit Yozgat, migrantische Communities mit der Forderung „kein 10. Mord“ auf die Straße gegangen sind. Diese Communities hatten längst Zusammenhänge in den rassistischen und neofaschistischen Morden gezogen. Die Antifa-Bewegung war von diesem Wissen abgeschnitten bzw. hat es nicht wahrgenommen. Sie begriff diese Dimension erst nach der Selbstenttarnung des sogenannten NSU im Jahr 2011. Auch wir mussten lernen: In Kassel, also nicht mal 40 Kilometer von Göttingen entfernt, waren es die Familie Yozgat und ihre Freund_innen, die bereits 2006 laut gesagt haben, was die deutsche Öffentlichkeit nicht hören wollte: Ihr Sohn wurde von Neonazis ermordet.
Um also die Dimension von Rassismus und Neonazi-Organisierung zu begreifen, müssen wir unseren antifaschistischen Kampf enger mit den Kämpfen derer, die von Rassismus betroffen sind, verbinden. Nur durch Kontakt, Austausch und Nähe und durch die Bereitschaft von jenen, die von Rassismus betroffenen sind, zu lernen, können wir als weiß-dominierte Bewegung wirklich verstehen, wie wir von unten gemeinsam gegen Alltagsrassismus, institutionalisierten Rassismus, Antisemitismus und Antirom_njaismus vorgehen können.
Um diese wertvollen Kontakte herzustellen haben wir 2016/2017 im Rahmen unserer Kampagne „A woman‘s voice is a revolution“ gezielt den Kontakt in muslimische Communities und zu Genoss_innen aus muslimischen Mehrheitsgesellschaften gesucht. Wir wollten gemeinsam gegen den allgegenwärtigen antimuslimischen Rassismus vorgehen. Genauso suchen wir aber auch Kontakte zu Menschen, die gerade anfangen sich ein neues Leben in Deutschland aufzubauen oder noch dafür kämpfen überhaupt hier leben zu können. In der Auseinandersetzung mit Göttinger Neonazis, die zwischen 2015 und 2017 an zahlreichen Orten in Göttingen und im Landkreis kleinste Kundgebungen abgehalten haben, haben wir immer wieder versucht, Menschen aus Geflüchteten-Unterkünften für Redebeiträge zu gewinnen. So wollten wir Widersprüche in dem „Wir alle gegen Nazis“-Tenor deutlich machen, da auch der deutsche Staat rassistische Politiken betreibt. Wir wollten damit den Schulterschluss zu Geflüchteten suchen, die sich gegen Rassismus wehren und damit aufzeigen, dass die reine Abgrenzung gegen Neonazis nicht ausreicht. Darüber hinaus begeben sich einige unserer Genoss_innen immer wieder an die europäischen Außengrenzen, um dort mit einer Bewegung von Menschen in Austausch zu kommen, die durch ihre Wege gegen die Festung Europa kämpfen und immer wieder Risse in ihre Wände reißen.
Im letzten Jahr gründeten sich an verschiedenen Orten Migrantifa Gruppen. Diese Gruppen machen den systematischen staatlichen Rassismus hinter den mordenden RassistInnen und Neonazis derzeit immer stärker zum Angriffspunkt. Den Kämpfen gegen staatlichen Rassismus, die migrantische und migrantisierte Gruppen seit Jahren führen, wollen wir uns mit einer eigenen antifaschistischen Perspektive anschließen.

Ein antifaschistischer Blick auf Rassismus und Neonazis

In den letzten Jahren erleben wir ein bedrohliches Zusammenkommen: neofaschistische Strukturen, die bis in den Staatsapparat hineinreichen; rechte Gesinnungsmörder und Polizist_innen, die zahlreiche Morde an migrantisierten Menschen verübt haben. Diese offene rassistische Gewalt ist mit einer Normalisierung von rassistischen Deutungen des gesellschaftlichen Geschehens in öffentlichen und politischen Diskussionen vermischt. Mit dieser Normalisierung geht die Zuspitzung der rassistischen Debatten um Migration, Asyl, Integration, Grenzschließungen oder Internierung in sogenannten „Ankerzentren“ oder „Hotspots“ an den europäischen Außengrenzen einher. Diese zeigen sich in den zahlreichen Gesetzesverschärfungen und den aktuellen Forderungen nach immer mehr Abschiebungen. Während in der bundesdeutschen Öffentlichkeit faschistische und rassistische Morde als Skandal gelten, empören sich nur wenige über die zahlreichen Verschärfungen der Asylgesetze. Wir sehen jedoch einen Zusammenhang zwischen dem zunehmend feindlichen Klima gegen Migration, den zahlreichen Gesetzesverschärfungen und den mordenden Neonazis.
Das rassistische Klima der Ausgrenzung, in dem Morde von Neonazis zunehmen, wird vom deutschen Staat mit Gesetzesverschärfungen flankiert und mit rassistischen Debatten beispielsweise um Integration, Grenzschließungen oder Internierung in sogenannten Ankerzentren oder Hotspots an den Außengrenzen mit angeheizt.
Diesen Zusammenhang aus schärfer werdenden Debatten um Asyl und Flucht und zunehmenden Morden können wir seit den 1980er Jahren beobachten. Die CDU zog in jener Dekade mit dem Slogan „Das Boot ist voll“ in den Wahlkampf, um gegen Einwanderung Polemik zu machen. Die EU baut seit den 1990er Jahren die Festung Europa mit dem zentralen Element des Dublin-Systems aus.
Das Grundrecht auf Asyl, das 1949 als Lehre aus dem deutschen Faschismus in das deutsche Grundgesetz geschrieben wurde, wurde in den Jahren 1992/1993 mit der Grundgesetzänderung durch die Zustimmung der SPD im „Asylkompromiss“ faktisch außer Kraft gesetzt.
Zeitgleich erstarkten neofaschistische Mobilisierungen bis hin zu den Pogromen der 1990er Jahren z.B. in Hoyerswerda im September 1991, in Rostock-Lichtenhagen im August 1992, in Mölln im November 1992 oder in Solingen im Mai 1993.
Dennoch gibt es nicht nur die beiden Seiten Staat / Neonazis. Gesetzesverschärfungen und Neonazi-Morde finden vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher rassistischer Hetze statt. Es gibt unterschiedliche Fraktionen mit verschiedenen Interessen: die „puren“ Rassist_innen und Neonazis, die Migration ganz verhindern wollen; neoliberale Rassist_innen bzw. Kapitalist_innen, die auf günstige Arbeitskräfte angewiesen sind und sich deshalb immer wieder für punktuelle Grenzöffnungen einsetzen. Was sie eint ist die Motivation, die weiße Vorherrschaft abzusichern. Sie stellen sicher, dass migrantisierte Menschen, deren Aufenthalt in Deutschland nicht zu verhindern ist, in der Gesellschaft und im Staat hierarchisch gesehen unter weißen stehen. Das ist z.B. daran sichtbar, dass migrantisierte Menschen strukturell die schlechter bezahlten und weniger anerkannten Jobs machen müssen oder immer wieder gefragt werden, woher sie kommen und warum sie hier sind, obwohl es schon immer Schwarze Menschen und People of Color in Deutschland gab und dementsprechend nicht alle von ihnen Migrant_innen sind. Migrantisierte Menschen werden durch ständige Polizeikontrollen des sog. racial profiling gedemütigt. Racial profiling heißt, dass Menschen allein auf Grund „äußerlicher Merkmale“ kontrolliert und durchsucht werden. Natürlich können sich auch immer wieder Menschen aus diesen Ungerechtigkeiten heraus kämpfen. Viele Migrant_innen haben sich längst eine eigene Existenz hier aufgebaut und sind Teil der deutschen Gesellschaft, der Nachbar_innenschaften und Städte. Und viele sind in eigenen Gruppen und Strukturen organisiert und wehren sich von dort gegen den alltäglichen und institutionalisierten Rassismus.

Bewegungsfreiheit erkämpfen – den langen Sommer der Migration verteidigen!

Im „langen Sommer der Migration“ 2015 missachteten hunderttausende Menschen Grenzen und nahmen sich ihr Recht auf Bewegungsfreiheit. Der Ausdruck „langer Sommer der Migration“ wurde von Genoss_innen, die 2015 und 2016 Menschen auf der Flucht unterstützt haben, eingeführt. Wir wollen mit diesem Ausdruck keine Migrationsbewegung romantisieren. Wir wollen uns kein neues revolutionäres Subjekt herbeiphantasieren. Wir wollen damit aber die Perspektive wechseln. Was wir auch selbst in unserem Aktivismus an den europäischen Außengrenzen erleben, ist der Kampf von Migrant_innen gegen eine Ordnung, in der sie an den Grenzen Europas, die für weiße Europäer_innen nicht spürbar sind, aufgehalten werden (sollen).
2015 allerdings haben sich Tausende nicht von Grenzbeamt_innen, Panzern und Zäunen aufhalten lassen. Sie erreichten innerhalb kürzester Zeit Länder wie Deutschland, die sich mit dem Dublin-System abzuschotten versuchen. Aus antirassistischer Perspektive kann dieser kurzzeitige Zusammenbruch des Dublin-Systems nur gefeiert werden. Wir wollen mit der Betonung des kurzfristigen Erfolges der Migrationsbewegung gegen die Abschottungspolitik Europas nicht unsichtbar machen, dass dieser Erfolg hart erkämpft war. Tausende erlebten extreme Entbehrungen, Verletzungen und haben Tote zu beklagen. Wir wollen damit auch nicht sagen, dass die Migrationsbewegung eine kämpfende Bewegung ist, die politisch organisiert ist. Wir wollen aber deutlich machen, dass Migrant_innen keine passiven Objekte sind; sondern, ob bewusst oder aus der Notwendigkeit heraus, kollektiv handeln. Ihr Ziel, Europa zu erreichen, steht im Widerspruch zu der herrschenden Ordnung. Diese Selbstermächtigung von Migrant_innen, bestehende Grenzen zu überschreiten, stellt die Fiktion von Europa als weiß wieder einmal in Frage. All das drückt für uns die Bezeichnung „langer Sommer der Migration“ aus. Diese Perspektive stellt eine Gegenerzählung dar, in der Migration nach Europa nicht als „Krise“ begriffen wird, sondern als ein kurzfristiger Erfolg von Migrationsbewegungen gegen europäische Abschottung.
Rechte Kräfte insbesondere in der CDU und CSU befeuern eine rassistische Stimmung gegen Migration, um den kurzzeitigen Erfolg im „langen Sommer der Migration“ 2015 gegen ihre Festung wieder zurückzudrängen. Dafür stellt der Staat, unter Federführung des Bundesinnenministers Horst Seehofer (CSU), seit 2015 viele seiner Stellschrauben auf Abschiebungen. Diese sollen in den lokalen Ausländerbehörden umgesetzt werden. Was so nüchtern klingt, bedeutet Vertreibung, Verschleppung, Entzug der Lebensgrundlage. Jeden Tag wird in den kommunalen Ausländerbehörden über das Leben von Menschen entschieden. In den Ausländerbehörden wird die Parole „Nazis morden, der Staat schiebt ab“ konkret.
Im nächsten Abschnitt wollen wir aus antifaschistischer Perspektive historisch in die Tiefe gehen. Ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung von Abschiebung und Vertreibung sowie auf den historischen Faschismus und die Rolle von Bürokratie in der systematischen Vernichtung von Menschen und zeigen, welch „Geistes Kind“ der deutsche Staat mit seinen Migrationsgesetzen und mit seinen entsprechenden Institutionen heute ist. Wir wollen dabei weder die derzeitige Situation mit dem historischen Faschismus vergleichen, noch behaupten, dass die derzeitigen Entwicklungen unweigerlich auf erneuten Faschismus zulaufen. Unsere Motivation ist, die Kontinuitäten in ihren Entwicklungen zu beleuchten und somit aus der Geschichte zu lernen.


Historische Spurensuche

Antiziganismus und Antiromn_jaismus

Mit Antiziganismus wird allgemein der Rassismus Personen gegenüber, die als Zi. konstruiert werden, bezeichnet. Der Begriff an sich ist jedoch problematisch, da er das Wort „zigan“ enthält und damit die Gefahr birgt, eine rassistische Bezeichnung zu reproduzieren. Die Option, Antiziganismus gegen „Rassismus gegen Sinti_zze und Rom_nja“ auszutauschen, bringt neue Probleme mit sich, da nicht ausschließlich Sinti_zze und Rom_nja von Antiziganismus betroffen sind. Unter der Kategorie Zi. wurden und werden auch Menschen diskriminiert und verfolgt, die sich nicht als Sinti_zze und Rom_nja verstehen, wie zum Beispiel Jenische, Irish Travellers, Manusch und Kale. Dementsprechend gibt es keine kollektive Selbstbezeichnung aller von Antiziganismus Betroffenen, die von allen geteilt wird. Wir verwenden den Begriff unter den dargestellten Vorbehalten.

Zi.

Die Bezeichnung Zi. schreiben wir nicht aus, um sie nicht zu reproduzieren. Sie hat eine rassistische und stigmatisierende Geschichte und wird beispielsweise vom Zentralrat deutscher Sinti und Roma und den meisten Sinti_zze und Rom_nja abgelehnt. Auch Sammelbezeichnungen, die nach dem deutschen Faschismus verwendet wurden, die auf Begriffe wie „fahrend“ zurückgreifen, beinhalten dieselben rassistischen Zuschreibungen. Wir wählen die Abkürzung Zi. im Gegensatz zur Abkürzung „Z“, da letztere im deutschen Faschismus als Kategorisierung in sog. „Rassegutachten“ verwendet wurde. In diesem Sinne wählen wir Zi. auch, wenn wir Wortlaute historischer Dokumente wiedergeben.

Sinti_zze und Rom_nja

Sinti_zze und Rom_nja sind zwei kollektive Selbstbezeichnungen. Die Verwendung ist aber teilweise unter Sinti_zze und Rom_nja umstritten, weil sie einen Sammelbegriff erzeugt und somit stigmatisieren kann. Manche bezeichnen sich daher lieber mit spezifischeren Gruppennamen, wie z. B. Lowara, Lalleri oder Kalderasch.

Porajmos/Samudaripen

Porajmos bezeichnet die Verbrechen und den systematischen Mord im deutschen Faschismus an Menschen, die als Zi. verfolgt wurden. Er wird von vielen Sinti_zze und Rom_nja genutzt. Der aus dem Romanes stammende Begriff wurde in den 1990er Jahren durch den Romani-Gelehrten Ian Hancock vorgeschlagen und wird inzwischen von vielen Initiativen und Organisationen von Sinti_zze und Rom_nja gebraucht. Er ist damit auch ein erinnerungspolitischer Begriff, mit dem die Sichtbarkeit und Anerkennung der Verbrechen an Menschen, die als Zi. verfolgt wurden, erkämpft wird. Als Wortschöpfung meint Porajmos wörtlich in etwa „Verschlingen“. Von einigen Sinti_zze und Rom_nja wird er deswegen als unangemessen kritisiert und von verschiedenen Verbänden explizit nicht verwendet. Die International Romani Union verwendet z.B. stattdessen den ebenfalls aus dem Romanes stammenden Begriff Samudaripen, was wörtlich in etwa „alle ermordet“ bedeutet.
Wir verwenden Porajmos oder Samudaripen immer dann, wenn damit explizit die historisch einmalige Verfolgung und der systematische Massenmord von als Zi. verfolgten Menschen im deutschen Faschismus gemeint ist.

Holocaust

Als gängigster Begriff, mit dem die einmaligen Verbrechen des deutschen Faschismus bezeichnet werden, wird „Holocaust“ verwendet. Der Begriff ist dabei älter als das historisch singuläre Ereignis, auf das er angewendet wird. Er hat sich inzwischen aber derart etabliert, dass ein alternativer Gebrauch von Holocaust eine klare Relativierung der beispiellosen Verbrechen, der systematischen Verfolgung und der mörderischen Vernichtung durch die deutschen FaschistInnen darstellen würde. Da Holocaust als Begriff für diese Verbrechen angewendet wurde und sich in dieser Bedeutung entwickelt und etabliert hat, gibt es keine klare Definition, ob Holocaust ausschließlich die systematische Vernichtung der Jüdinnen_Juden oder auch die Ermordung der als Zi. Verfolgten und die Krankenmorde oder die Gesamtheit aller Verfolgungen und Morde von Gegner_innen des deutschen Faschismus meint. Holocaust wird von verschiedenen Opfergruppen durchaus unterschiedlich gebraucht und ist und war in seiner Aneignung damit auch ein erinnerungspolitisch umkämpfter Begriff.
Obwohl wir den Begriff teilweise verwenden, weil auch wir an seiner Etablierung nicht vorbei können, ist uns trotzdem wichtig, ihn mit kritischer Distanz zu gebrauchen. Erstmals wurde der Begriff Holocaust als Bezeichnung der Verbrechen des deutschen Faschismus an Jüdinnen_Juden im Jahr 1943 im britischen Oberhaus von nicht-jüdischen Menschen verwendet. Anschließend wurde er in der britischen und US-amerikanischen Presse aufgegriffen. Weite Verbreitung fand der Begriff für diese Bedeutung durch den Film „Holocaust: The Story of the Family Weiss“ von 1978, der 1979 in deutscher Übersetzung ausgestrahlt wurde.
Aus guten Gründen wird der Begriff von einigen Zeitzeug_innen, Überlebenden und Opfergruppen abgelehnt, insbesondere von vielen Jüdinnen_Juden. Theologischer Ursprung des Begriffs Holocaust ist seine biblische Verwendung im alten Testament für „Brandopfer“. Damit sind die im Tempel dargebrachten Gaben für Gott gemeint. Da solche Opfer aus theologischer Perspektive einen Sinn ergeben, ist es nur zu verständlich, dass der Begriff für die systematische Vernichtung von Jüdinnen_Juden als unangemessen zurückgewiesen wird. Im Mittelalter wurde Holocaust darüber hinaus teilweise explizit antisemitisch im Kontext von Pogromen gegen Jüdinnen_Juden verwendet. Spätestens vor diesem Hintergrund sollte der Begriff kritisch und nur im Bewusstsein seiner Begriffsgeschichte verwendet werden.
Trotz der Kritiken wird der Begriff von vielen Zeitzeug_innen gebraucht. Wenn wir uns z.B. auf den Überlebenden Zygmunt Bauman beziehen, der selbst vom Holocaust spricht, dann werden wir ihm keinen anderen Begriff in den Mund legen.

Shoah

Shoah ist eine Eigenbezeichnung von Jüdinnen_Juden für den systematischen Mord an Jüdinnen_Juden. Der Begriff wird explizit für die einzigartigen Verbrechen des deutschen Faschismus an den jüdischen Menschen verwendet und erfasst damit die Singularität der Verbrechen. Wörtlich bedeutet er in etwa „Katastrophe“ und wird daher von vielen Jüdinnen_Juden als angemessener betrachtet, als der theologisch kritisch zu interpretierende Begriff Holocaust.
Aufgekommen als Bezeichnung für die Verfolgung und systematische Vernichtung von Jüdinnen_Juden ist der Begriff Shoah Ende der 1940er Jahre im Kontext der Gründung des Staates Israel. Er wird unter anderem in dessen Unabhängigkeitserklärung verwendet. Verbreitung fand der Begriff vor allem durch den Gedenktag „Yom ha‘Shoah“ am 27. Nissan des jüdischen Kalenders. Auch dieser Gedenktag wurde in Israel etabliert; er gehört aber inzwischen – obwohl kein religiöser Feiertag – ebenso wie der Begriff Shoah fest zum Gemeindeleben der meisten jüdischen Gemeinden in der Diaspora.
Auch wenn es zweifelsfrei richtig ist, den Begriff Shoah zu verwenden, ersetzt dieser als jüdische Selbstbezeichnung nicht einfach den Begriff Holocaust, da andere Opfergruppen der faschistischen Verbrechen sonst ausgeschlossen werden würden. Wir finden es daher richtig, Shoah immer dann zu verwenden, wenn damit explizit die historisch einzigartigen Verbrechen des deutschen Faschismus an den Jüdinnen_Juden gemeint sind.


Das rassistische Instrument des Lagers

Ein Instrument, das Staaten seit jeher nutzen um Migration zu verhindern und zu kontrollieren, ist das Lager. Mit dem Konzept von Lager, aber auch von Knast, sind Vertreibung und Abschiebung fest verbunden. In der Weimarer Republik (1918-1933) werden aus antisemitischer Motivation vor allem osteuropäische Jüdinnen_Juden abgeschoben. 1919 wurde die Abschiebehaft in Gesetze gegossen und zur regulierten Vertreibung von Jüdinnen_Juden genutzt. 1920 wird die Internierung von Menschen, die völkisch-antisemitisch als sogenannte „Ostjuden“ bezeichnet wurden, ermöglicht. In diesem Jahr wird das erste deutsche Abschiebelager in Bayern in Ingolstadt eingerichtet. Diese Lager hießen damals „Konzentrationslager“. Wir nennen sie im folgenden Abschiebelager, um keine Verwechslung mit den Konzentrationslagern der Nazis zu erzeugen. Als ab 1923 einige Abschiebelager wegen Geldmangel schließen mussten, wurden jüdische Gefangene daraufhin auf „gewöhnliche“ Knäste verteilt.

Die Konzepte von Lager und Internierung werden im deutschen Faschismus weitergesponnen und werden schließlich zu Konzentrationslagern. Die Funktion der faschistischen Konzentrationslager ändert sich grundlegend von der Vertreibungs- und Ausgrenzungspolitik der Weimarer Republik hin zur Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik durch die Nazis. Shoah und Porajmos/Samudaripen stellen eine einzigartige Singularität in der deutschen Geschichte dar, die wir nicht durch einen abstrusen Vergleich relativieren wollen. Dennoch war der deutsche Faschismus kein kompletter Bruch, wie so oft behauptet wird - weder vorher noch hinterher! Vielmehr konnte der deutsche Faschismus an den bereits davor bestehenden Rassismus und Antisemitismus anknüpfen. Die Nazis konnten die Vetreibungspolitik gegen Jüdinnen_Juden mitsamt der bereits etablierten Abschiebelager aus der Weimarer Republik weiterentwickeln. Unter den Bedingungen einer faschistischen Herrschaft wurde daraus die historisch einmalige, systematische Vernichtungspolitik der Nazis:
Im Jahr 1938 werden in der sogenannten „Polenaktion“ zehntausende, völkisch-antisemitisch als „Ostjuden“ bezeichnete Menschen in Konzentrationslagern interniert. Von dort aus sollen sie anschließend abgeschoben werden. Am 9. November 1938 findet die Reichspogromnacht statt. In den Tagen um die Pogromnacht werden hunderte Jüdinnen_Juden ermordet, mehr als 30.000 in Konzentrationslager verschleppt und Synagogen und jüdische Geschäfte in ganz Deutschland und Österreich angezündet und zerstört. Außerdem erleben 17.000 polnische Jüdinnen_Juden eine gewaltvolle Massenausweisung. Auf der Wannseekonferenz 1942 wird schließlich die faschistische Vertreibungspolitik durch den Plan der systematischen Vernichtung abgelöst. Im deutschen Faschismus werden ins Besondere Jüdinnen_Juden sowie als Zi. verfolgte Menschen systematisch ermordet.

Die Ideen von Lager, Internierung und anschließender Abschiebung haben weder mit dem deutschen Faschismus angefangen, noch sind sie mit ihm verschwunden. Auch nach dem deutschen Faschismus werden viele Menschen, die in die BRD einwandern, in Lagern und Gefängnissen eingesperrt und von dort aus abgeschoben: Im Jahr 1951 übernimmt die BRD die Ausländerpolizeiverordnung unverändert aus dem deutschen Faschismus, die 1938 eingeführt wurde. Sie regelt unter anderem, dass sich „Ausländer“ nur in Deutschland aufhalten dürfen, wenn sie vom Staat als nützlich angesehen werden. Die Ausländerpolizeiverordnung wird 1965 und 1990 reformiert; der Geist bleibt jedoch erhalten. Die „Gründe“ für die Inhaftierung von Menschen, die abgeschoben werden sollen, werden von 1960 bis heute immer weiter ausgeweitet.

In den 1990ern werden jährlich zwischen 20.000 und 25.000 von Abschiebungen Betroffene vor ihrer Abschiebung eingesperrt. Im Jahr 2015 gibt es in der BRD 15 gesonderte Abschiebeknäste mit insgesamt 712 Plätzen. Seit 2019 werden auf Druck des Bundesinnenministers Horst Seehofer (CSU) neue Abschiebeknäste gebaut. Bundesweit sollen die „Kapazitäten“ bis 2022 auf 1329 Plätze erhöht werden. Außerdem werden Abschiebegefangene wieder in „normalen“ Gefängnissen inhaftiert; eine Praxis, die selbst nach der Logik der Justiz menschenrechtswidrig ist. Der Europäische Gerichtshof und der Bundesgerichtshof hatten diese Inhaftierungen 2014 verboten. Derzeit gilt in der BRD eine Ausnahme bis 2023.
Kontinuitäten sind nicht nur bzgl. Haft, sondern auch bzgl. Lager sichtbar. Seit den 1950er Jahren werden Migrant_innen, in den 1960ern z.B. sog. „Gastarbeiter_innen“ und gegenwärtig Asylsuchende, in Lagern am Rand von Städten und Dörfern „untergebracht“. So können Migrant_innen aus Sicht der staatlichen Behörden besonders „gut“ kontrolliert und isoliert, also von der Gesamtgesellschaft fern gehalten, werden. Diese Lager werden euphemistisch als „Unterkünfte“ bezeichnet.
Die Isolation und Kontrolle von Menschen in Lagern verschärft sich seit 2015, also seit dem „langen Sommer der Migration“, enorm. An den europäischen Außengrenzen, z.B. auf den griechischen Inseln, entstehen riesige Lager, sogenannte Hotspots, in denen Menschen sortiert, verteilt und direkt wieder abgeschoben werden sollen. In Deutschland kocht 2018 die Debatte über sogenannte AnkERzentren hoch: AnkER steht für „Ankunft, Entscheidung und Rückführung“. Menschen sollen ihr komplettes Asylverfahren in diesem AnkERzentrum verbringen und erst bei positiver Entscheidung über das Asylverfahren auf eine Kommune verteilt werden. Während schon 1920 das erste deutsche Abschiebelager in Bayern eingerichtet wurde, so wird auch 2018 das erste sogenannte AnkERzentrum im bayerischen Manching bei Ingolstadt eingeführt. In anderen Bundesländern heißen diese Lager, „Erstaufnahmeeinrichtungen“. In den Lagern dieser Art werden, ähnlich dem Hotspot-System auf den griechischen Inseln, Menschen durch das Asylverfahren sortiert. Nur manche dürfen sich woanders eine Wohnung suchen. Auch nach der „Verteilung“ aus den zentralen Lagern heraus dürfen sich Menschen ihre Wohnung nicht frei aussuchen. Viele leben danach in kommunal betriebenen und kontrollierten Lagern weiter. Diejenigen, die direkt abgeschoben werden, leben meist bis zu ihrer Abschiebung ausschließlich im Lager und werden damit von der deutschen Gesellschaft ferngehalten. Diese Isolation soll unter anderem dazu beitragen, dass Abschiebungen nicht durch die Zivilgesellschaft verhindert werden. Auch nach der Verteilung aus den zentralen Lagern heraus dürfen sich Menschen ihre Wohnung nicht frei aussuchen, viele leben danach in kommunal betriebenen und kontrollierten Lagern weiter.
Lager und Abschiebeknäste sind als antisemitische Instrumente zur Ausweisung von Jüdinnen_Juden aus Deutschland entwickelt worden. Heute treffen die gewaltvollen Instrumente nicht mehr primär Jüdinnen_Juden, sondern vor allem all jene Menschen, die über das Asylsystem versuchen sich ein Leben in Deutschland aufzubauen.

Vertreibung, Katalogisierung, Erfassung

Nicht nur das Einsperren in Lagern und Gefängnissen und Abschiebeknästen hat eine lange Tradition, sondern auch die Vorgehensweise der (räumlichen) Vertreibung. Diese ist eng verbunden mit dem Rassismus gegen Menschen, die als Zi. stigmatisiert, ausgegrenzt und verfolgt wurden und führt uns durch sog. „Stadt- und Landesverweisen“ bis in das 15 Jahrhundert zurück. 1424 erhielten Rom_nja in Hildesheim kein Aufenthaltsrecht und mussten außerhalb der Stadtmauer in Zelten leben. Auf dem Reichstag zu Freiburg 1498 wurden sie zu „Vogelfreien“ erklärt und damit geächtet und vertrieben. Sie wurden zum Gegenbild des „sesshaften guten Bürgers“ gemacht.
Mit der Herausbildung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert verfestigte sich der Rassismus gegen Sinti_zze und Rom_nja und materialisierte sich im entstehenden Polizeiapparat. Ende des 19. Jahrhunderts. 1899 stampfte die Königliche Polizeidirektion in München den „Nachrichtendienst für die Sicherheitspolizei in Bezug auf Zi.“ aus dem Boden, woraufhin Rom_nja ohne deutsche Staatsbürger_innenschaft und ohne festen Wohnsitz von lokaler Polizei gemeldet und erfasst wurden. In 26 Jahren legte die Polizei über 14.000 Personalakten über Sinti_zze und Rom_nja an.
Knapp 40 Jahre später, 1938, führten die Nazis die „Ausländerzentralkartei“ ein. Sie diente dem Ziel, möglichst viele Informationen über alle „Ausländer_innen“ zu sammeln. Diese rassistischen Erhebungen bildeten die Basis für Porajmos/Samudaripen, den Genozid an den als Zi. verfolgte Menschen im deutschen Faschismus.
Das 1953 gegründete „Ausländerzentralregister“ ist die nahtlose Weiterführung der faschistischen Ausländerzentralkartei. Dieses Register wird bis heute geführt. Der Zweck ist weiterhin die rassistische Kontrolle und Überwachung von Menschen, die als „Ausländer_innen“ gelten. Mit der „Landfahrerordnung“ wird, ebenfalls 1953, eine weitere rassistische Verordnung der Faschisten wieder eingesetzt, die zuvor von den Alliierten aufgehoben worden war. Der Begriff des „Landfahrers“ soll den rassistischen Begriff Zi. zwar vermeiden, die rassistischen Politiken werden aber weitergeführt. Diese „Landfahrerzentrale“, die am Landeskriminalamt Bayern angesiedelt, führt die Verfolgungsakten aus dem deutschen Faschismus weiter und erfasste bis 1970 Fingerabdrücke, persönliche Daten und eintätowierte KZ-Nummern von Sinti_zze und Rom_nja aus der ganzen BRD. Auch personell wurde die Kontinuität zum deutschen Faschismus bewahrt: Die Leitung der Zentrale übernahm Josef Eichberger, der vorher im „Reichsicherheitshauptamt“ (RSHA) hauptverantwortlich für die Organisation der Deportation von Menschen, die als Zi. verfolgt wurden, gewesen ist.
Die „Ausländerpolizeiverordnung“ wird ebenfalls von der BRD aus dem deutschen Faschismus übernommenen. 1965 ersetzt die BRD die Ausländerpolizeiverordnung durch das „Ausländergesetz“. Das Wort Zi. wird aus dem Gesetz gestrichen; der Inhalt bleibt jedoch erhalten. Antiziganismus ist weiter Staatsräson, wie rassistische Sondererfassungen in heutigen Polizeidatenbanken zeigen.
Das Verwehren des Aufenthalts trifft gegenwärtig insbesondere Rom_nja, die in den 1990er Jahren aus Jugoslawien geflohen sind. Viele von ihnen sind die Nachkommenden der Überlebenden von Porajmos/Samudaripen. In den 1990er Jahren wird während des Jugoslawien-Krieges und der damit verbundenen Flucht von vielen Romn_ja nach Deutschland das Grundrecht auf Asyl aus dem deutschen Grundgesetz gestrichen. Viele tausend Romn_ja in Deutschland haben nie einen Aufenthaltsstatus bekommen, sondern leben zum Teil seit 30 Jahren mit dem prekären Status der Duldung. Das bedeutet, dass sie theoretisch jederzeit von Abschiebung bedroht sind.

Duldung

Rechtlicher nicht-Status, den Menschen bekommen, die nicht abgeschoben werden dürfen aber auch kein Aufenthaltsrecht in Deutschland bekommen. Bürgerkrieg, geschlechtsspezifische Verfolgung oder Umweltkatastrophen sind kein Grund für Asyl. Wenn die Abschiebung in ihr Herkunftsland dem Staat zu riskant ist, erhalten Menschen kurzfristig eine Duldung. Die Duldung ist ein prekärer Status, in dem Menschen jederzeit abschiebbar sind und kaum Chancen haben, sich ein Leben in Deutschland aufzubauen. Manche Menschen leben über 30 Jahre mit diesem Status, den sie alle drei Monate verlängern müssen. Sie leben in der Dauergefahr von Abschiebung.

Viele Kinder dieser Menschen, die damals aus dem Bürgerkrieg in Jugoslawien geflohen sind, wurden in Deutschland geboren und leben schon ihr ganzes Leben mit der Angst vor Verlust des Zuhauses. 2014 und 2015 erklärt die Bundesregierung Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Albanien, Montenegro und Kosovo zu vermeintlich sicheren Herkunftsländern. Viele, die ihr ganzes Leben mit immer wieder verlängerten Kettenduldungen in Deutschland verbracht haben, wurden nun abgeschoben oder in die Illegalität gedrängt.

Anita – in die Illegalität gedrängt

Im Jahr 2015 ist Anita 15 Jahre alt. Sie wurde in Göttingen geboren und sagt: „das ist meine Heimat.“. Seit 17 Jahren ist ihre Familie in Göttingen und seit 17 Jahren werden sie durch den Duldungsstatus gegängelt. 2015 wollen die Göttinger Behörden sie dann mit ihrer Familie in den Kosovo abschieben. Anita war noch niemals dort, geschweige denn spricht sie die Sprache. Im Kosovo sind Rom_nja Armut und Verfolgung ausgesetzt – Deutschland erklärte den Kosovo dennoch seit 2015 zum „sicheren Herkunftsstaat“. Auf die geplante Abschiebung von Anita und ihrer Familie hagelte es Solidaritätsbekundungen. Durch die drohende Abschiebung wurden Anita und ihre Familie in die Illegalität gedrängt. Der Fall von Anita zeigt, dass der Abschiebewahn der Behörden selbst vor Menschen, die ihr ganzes Leben in Göttingen verbracht haben nicht halt macht.

Abschiebung ist Mord - Gani Rama ist tot

Am 20. Juli 2019 wurde Gani Rama in Pristina ermordet. Gani Rama wollte nicht im Kosovo leben. Wegen des Kriegs im Kosovo floh er nach Deutschland und kam nach Göttingen. Doch die Göttinger Behörden schoben Gani 2010 wieder in den Kosovo ab. Schon damals fürchtete er um sein Leben dort und sagte: „Eines Tages werden sie mich umbringen“. Gani kämpft sich seinen Weg zurück zu seiner Familie in Göttingen. Er wird 2017 erneut abgeschoben, trotz einer psychische Erkrankung. In Pristina lebt er vor seiner Ermordung auf der Straße. Gani wird dort von einem Anhänger der UCK, einer paramilitärischen Organisation von Kosovo-Albaner_innen, die sich an der Vertreibung der Rom_nja im Kosovo beteiligen, totgeprügelt. Der deutsche Staat hat den Kosovo 2015 zum „sicheren Herkunftsland“ erklärt.

Abschiebungen und Bürgerschaft

Bei Abschiebungen handelt es sich um ein Instrument, mit dem Vorstellungen von Gebieten und Ansprüchen durchgesetzt werden sollen. Die Herkunft eines Menschen wird dabei einem bestimmten Gebiet zugeordnet und Menschen dadurch aus anderen Territorien ausgeschlossen. Wie diese Territorien aussehen, die die Zugehörigkeit definieren, wandelt sich im Laufe der Zeit von der Stadt bis zur Nationalstaatwerdung im 19 Jahrhundert.
Schon in der Reichspolizeiordnung des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ von 1530 findet sich die Kategorie der_s sogenannten „Fremden“. Damals galt eine Person aus einer anderen Stadt als „fremd“. “Fremden“ war das Betteln verboten. In „Bettelschüben“ wurden Arme aus den Städten vertrieben.
Das „Fremde“ wird später in Abgrenzung zum „Deutschen“ konstruiert. Mit der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 wird die rechtsnationale Idee der „deutschen Nation“ langsam umgesetzt. Dies beinhaltet die Idee einer Nation, die mit einem Territorium und einem vermeintlich dazu gehörenden biologischen „Volk“ sowie einer einheitlichen nationalen „Kultur“ verbunden ist. Abschiebungen sollen nun durchsetzen, wer nicht zum „Volkskörper“ gehört und sich demnach nicht im Nationalstaat aufhalten darf. Der sich entwickelnde Staat mit seinen Grenzen, dazugehörigen Staatsbürger_innen und einem nicht dazu gehörendem Außen wird in Gesetzesform gegossen.
Die BRD fängt erst im Jahr 2000 nach langen politischen Kämpfen an, die biologische Konstruktion des „deutschen Volkes“ juristisch aufzuweichen, indem das sog. Geburtsortprinzip eingeführt wird. Dieses legt fest, dass ein Kind von Eltern ohne deutscher Staatsbürger_innenschaft, das selbst in der BRD geboren wurde, die Möglichkeit hat, eine deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. Dafür muss der Aufenthaltsstatus der Eltern bestimmte Bedingungen erfüllen. So wird zum ersten Mal in der deutschen Geschichte ermöglicht, die deutsche Staatsbürger_innenschaft unabhängig von den Eltern zu erlangen.
Deutlich wird: Der BRD liegt eine gewaltsame Geschichte zugrunde, in der seit Jahrhunderten Menschen einem Gebiet zugeordnet werden oder brutal ausgeschlossen und vertrieben werden. Um „Deutsch-Sein“ herzustellen und zu konstruieren, werden seit jeher Menschen aus ihrem Zuhause vertrieben. Die biologistische und kulturalistische Konstruktion dessen mit entsprechenden rassistischen, antirom_njaistischen und antisemitischen Ausschlüssen lässt sich von den Anfängen im Kaiserreich über die Weimarer Republik, über den deutschen Faschismus bis in die heutige BRD nachverfolgen. Die BRD greift zur Durchsetzung der Ausschlüsse bis heute auf die uralten Instrumente von Lager, Vertreibung und Abschiebung zurück. Diese Instrumente sind über bestimmte Aufgabenteilungen und Verantwortlichkeiten organisiert, die wir im Folgenden darlegen wollen.


Der rassistische Apparat

Bleibeperspektive
Kategorie des BAMF, basierend auf der statistischen Wahrscheinlichkeit, nach der Menschen aus einem bestimmten Land in Deutschland einen Schutzstatus erhalten.

BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Mitarbeiter_innen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) führen die Aus- und Be-Fragung derjenigen Menschen durch, die Asyl beantragen. Dafür durchleuchten sie das Leben der Menschen, verschaffen sich Zugang zu Inhalten auf ihren Smartphones, lesen Daten aus und quetschen die Menschen über ihr Leben und ihre Fluchtrouten aus. Die BAMF-Mitarbeiter_innen entscheiden über den Schutzstatus, den die Person erhalten wird oder auch nicht und damit über das weitere Leben von Menschen. Die entsprechenden BAMF-Außenstellen befinden sich in den niedersächsischen Erstaufnahmeeinrichtungen.

LAB NI
Die Landesaufnahemebehörde Niedersachsen (LAB NI) untersteht dem Landes-Innenministerium und ist für Folgendes verantwortlich: (1) Die LAB NI betreibt die niedersächsischen Registrierungs- und Sortierungs-Lager für Geflüchtete (offiziell Erstaufnahmeeinrichtungen). Menschen mit sog. „guter Bleibeperspektive“, über die das BAMF positiv entscheidet, werden aus den Erstaufnahmeeinrichtungen an ein kommunales Lager weiter „verteilt“. Erstaufnahmelager der LAB NI befinden sich in Bramsche, Bad Fallingbostel, Braunschweig, Osnabrück und Friedland. (2) Die LAB NI übernimmt für die Menschen, die sich in den zentralen niedersächsischen Erstaufnahmelagern befinden, dieselben Aufgaben wie eine lokale Ausländerbehörde auf kommunaler Ebene. (3) Die LAB NI ist verantwortlich für die Umsetzung der Abschiebung. Mitarbeiter_innen der LAB NI tauchen nachts an den Wohnungen von Menschen auf, um sie aus ihren Wohnungen zu zerren und abzuschieben.

Lokale Ausländerbehörde
Die lokale Ausländerbehörde ist die zentrale Kontrollbehörde, die den Ausschluss von Menschen ohne deutschen Pass im Alltag konkret macht. Die Gängelungen in einer Ausländerbehörde betreffen also nicht nur Menschen, die Asyl beantragen. In der lokalen Ausländerbehörde werden die rassistischen Sondergesetze umgesetzt. Das meint die Gesetze, die nicht-deutsche Staatsbürger_innen in Deutschland entrechten. Dazu gehört z.B., dass diese regelmäßig ihren Aufenthalt neu erfragen müssen, den Besuch von Verwandten erbetteln müssen oder mit Abschiebungen bedroht werden, wenn sie ihren Job oder Studiengang wechseln. Der alltägliche Terror der Ausländerbehörde trifft ganz besonders all jene Menschen, die kein Aufenthaltsrecht vom BAMF bekommen haben. Die Mitarbeiter_innen der Ausländerbehörde sind dabei ganz konkret verantwortlich für: (1) Die Einleitung einer Abschiebung. Sie treffen die Entscheidung über die Abschiebung oder Verlängerung der Duldung. (2) Die Inhaftierung von Menschen. Die Mitarbeiter_innen stellen den Antrag auf Abschiebehaft beim Amtsgericht.

LKA
Das Landeskriminalamt (LKA) wird von der lokalen Ausländerbehörde über eine Abschiebung informiert und ist für Folgendes verantwortlich: (1) Das LKA bucht die Flüge für die Abschiebung. (2) Es entscheidet über die Gewalt-Strategie während der Abschiebung: Wie viel Drohpotenzial muss aufgefahren werden? Wie viele und welche Polizeieinheiten müssen bei der Verschleppung aus der Wohnung, beim Zwang ins Flugzeug und zur „Ruhigstellung“ - sprich Knebelung und Fesselung - während des Flugs dabei sein? (3) Das LKA beschäftigt spezielle und gut honorierte Vertragsärzt_innen für Abschiebungen, die für Geld zweifelhafte Bescheinigungen über den Gesundheitszustand von Menschen ausstellen oder für die „medizinische Absicherung“ auch mal jemanden mit einer Spritze für den Flug oder den Transport „ruhig stellen“.

Amtsgericht
Das Amtsgericht ist verantwortlich für die Inhaftierung von Menschen in der sogenannten Abschiebehaft. Dafür stellt je nach Zuständigkeit entweder die lokale Ausländerbehörde oder die LAB NI den Antrag auf Inhaftierung beim Amtsgericht. Ein_e Richter_in entscheidet über die Inhaftierung.

Protest gegen die Abschiebung von Willard 2018Polizei
Auch die Polizei ist aktiv an der Verschleppung von Menschen beteiligt. Auf Antrag der LAB NI ist die Polizei als Vollzugshilfe bei der Abholung an der Wohnung dabei, transportiert Menschen über Bundeslandgrenzen und ist für die Abschiebung am Flughafen zuständig. Zudem mehren sich Berichte von meist illegalem Polizeigewahrsam vor einer Abschiebung oder vor der Beantragung von Abschiebehaft.

„Sichere“ Herkunftsländer
Länder, die Deutschland für sicher erklärt, sodass Menschen aus diesen Ländern sehr schwere Chancen auf einen Schutzstatus in Deutschland haben. „Sichere Herkunftsländer“ werden vom Deutschen Bundestag per Gesetz festgelegt.


Plakat "Die Bürokratie des Bösen: der rassistische Apparat"

Die Bürokratie des Bösen: der rassistische Apparat Plakat

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Bürokratie oder die Banalität des Bösen in der Ausländerbehörde

Der deutsche Staat zerrt immer wieder Menschen nachts aus ihren Wohnungen und verschleppt sie mit Gewalt an Orte, an denen sie nicht sein wollen. Organisiert wird das unter anderem von den lokalen Ausländerbehörden. Die Mitarbeiter_innen entscheiden über die Zukunft von Menschen – tagein tagaus. Sie wenden sich an das LKA und die Polizei und organisieren Abschiebungen. Während die Gewalt von Neonazis an Menschen gesellschaftlich als Gewalt verstanden wird, ist die tagtägliche strukturelle Gewalt, der migrantische Menschen in der Ausländerbehörde ausgesetzt sind, eher unsichtbar und wird von vielen in der Gesellschaft akzeptiert. Nicht wenige sehen sie sogar als notwendige Durchsetzung von „Recht und Ordnung“ an. Warum? Sollte uns nicht spätestens der Blick in die Geschichte lehren, wozu es führen kann, wenn Menschen gehorsam und „pflichtbewusst“ ihren Dienst tun und dabei die Verantwortung für ihr Handeln abgeben? Wofür lässt sich so eine allgemeine „Verantwortungslosigkeit“, je nach historischem Zeitpunkt in unterschiedlicher Art, einspannen? Werfen wir einen Blick zurück auf den mordenden bürokratischen Apparat im deutschen Faschismus und reflektieren, was wir daraus im Bezug auf Abschiebungen lernen können.

Nur ein Job?

Die Mitarbeiter_innen der Ausländerbehörde sind persönlich dafür verantwortlich, Menschen zu verschleppen, sie ihrer Lebensgrundlage zu berauben und sogar ihren Tod in Kauf zu nehmen (siehe Fallkasten Gani Rama S. 15). Dafür werden sie bezahlt. Sie leiten ganz konkret die Abschiebungen ein. Das heißt, sie entscheiden darüber, ob eine Duldung verlängert oder ein Mensch abgeschoben wird. So unmoralisch das für uns von außen zurecht erscheint, so ist dieses Vorgehen für die meisten Abschiebe-Bürokrat_innen tatsächlich ein sehr nüchterner Vorgang: Die Entscheidung, einen Menschen gewaltvoll aus dem Zuhause verschleppen zu lassen, wird quasi mit dem gleichen Stempel getroffen, mit dem auch bei der Kfz-Zulassungsstelle ein neues Auto zugelassen wird.
Schon die jüdische Philosophin Hannah Arendt (1906-1975) kam zu dem Schluss, dass „das Böse“ so banal ist, weil es gehorcht, anstatt sich der moralischen Verantwortung zu stellen. Der SS- Obersturmbannführer und Massenmörder Otto Adolf Eichmann wurde im Eichmann-Prozess (April-Dezember 1961 in Jerusalem) zum Tode verurteilt, weil er die Verfolgung, Vertreibung und Deportation von Jüdinnen_Juden im deutschen Faschismus organisierte. Hannah Arendt begleitete als Journalistin den Prozess und fällte ein moralisches Urteil über jenen bürokratischen Massenmörder. Sie urteilte, dass “unerbitterliche Pflichttreue“ und „Gesetzesloyalität“ mehr Unheil anzurichten wissen, als Boshaftigkeit – eben die Banalität des Bösen. Eichmann hatte im Laufe des Prozesses immer wieder betont, gewissenhaft seinen Job gemacht und „nicht nur Befehlen gehorcht“, sondern das „Gesetz befolgt“ zu haben. Hannah Arendt schlussfolgerte, dass der deutsche Faschismus ein System geschaffen habe, in dem Personen anderen Menschen mit einer Systematik Schaden zufügen konnten, ohne dabei mit dem eigenen Gewissen in Konflikt zu kommen. In der Beobachtung Eichmanns und seiner Haltung bemerkt Arendt „dass nicht der Befehl, sondern das Gesetz sie alle zu Verbrechern gemacht hatte.“ Denn das Gesetz der Nazis verlangte, dass „die Stimme des Gewissens jedermann sage: ‚Du sollst töten‘“.


Auch Zygmunt Bauman, ein weiterer jüdischer Überlebender der Shoah, mahnt uns noch heute, Lehren aus dem bürokratisch organisierten Massenmord zu ziehen. Als Soziologe warnt er vor der tödlichen Entmenschlichung, die mit der bürokratischen Organisation einhergehen kann. Ihm zufolge konnte der Holocaust nur stattfinden, weil faschistische Ideologie mit einem modernen bürokratischen Apparat zusammen kam. Dieser erschreckend effiziente Apparat wurde auf die Verfolgung und spätere Vernichtung von Menschen ausgerichtet. Bauman sieht eine Gefahr darin, dass Menschen bei bürokratischen Vorgängen zu Nummern, Akten und Fällen werden. Dies ist ein Schritt auf dem Weg zur Entmenschlichung. Diese Entmenschlichung in Kombination mit einer antisemitischen und rassistischen Weltanschauung machte es möglich, dass Personen durch bürokratische Prozesse als weniger wert bis hin zu wertlos abstempelt wurden. So konnten Bürokrat_innen aktiv an der Vernichtung beteiligt sein, ohne dass jede_r selbst den Abzug drücken musste. Viele hatten lediglich Stempel oder Stift als Waffe in der Hand.


Einen weiteren Baustein des bürokratischen Bösen im deutschen Faschismus sieht Bauman in der funktionalen Aufgabenteilung von Prozessen. Die Prozesse der faschistischen Vernichtungsmaschinerie waren akribisch in einzelne Arbeitsschritte und Aufgaben aufgeteilt. Somit war es für viele möglich, sich auf den eigenen Auftrag zu konzentrieren und zu behaupten, das große Ganze nicht überblicken zu können, selbst ja direkt nicht gemordet zu haben und somit unschuldig zu sein. So wurde scheinbar die Verantwortung für Verfolgung und Vernichtung zerstreut und auf diverse Schultern verteilt. Die eigene Arbeitsaufgabe wurde zum Selbstzweck. Was sie bewirkt, rückte dabei in den Hintergrund. Jede_r einzelne konnte beteuern, ja „besten Gewissens nur den Job gemacht“ und „gehorcht zu haben“ und selbst nicht TäterIn, sondern nur ein kleines unwichtiges Zahnrädchen im (mordenden) Apparat gewesen zu sein. Nur so war nach Bauman die Ermordung und Vernichtung so effektiv möglich.
Viele der Überlegungen von Arendt und Bauman über die Rolle der Bürokratie im Holocaust sind auch im Hinblick auf historische und gegenwärtige Abschiebungen interessant.
Entmenschlichende Sprache und funktionale Arbeitsteilung sind in der aktuellen deutschen Bürokratie fest verankert. Dass Sprache Gewalt ist und einen elementaren Teil zur Entmenschlichung beiträgt, wird bei Abschiebungen allzu deutlich: Hier werden Menschen zu Flüchtlingen und Nummern, ihre Lebensgeschichten zu Akten und Anträgen, Abschiebungen zu sogenannten Rückführungen und Vertreibung zur „freiwilligen Rückkehr“. In all diesen Bezeichnungen werden staatliche Gewaltakte unsichtbar gemacht und die Menschen, an welchen sie verübt werden, entmenschlicht. Auch die funktionale Arbeitsteilung im Abschiebeprozess ist deutlich: Die eine setzt den Stempel, der andere organisiert den Flug, eine besorgt den Schlüssel, jemand holt wen aus einer Wohnung ab, worüber aber wiederum eine andere geurteilt hat.
Für die Beamt_innen der Abschiebebehörden zählt innerhalb ihres Aufgabenbereiches die möglichst reibungslose Durchführung und Effizienz. Hinter den Akten verschwinden Menschen und ihre Lebensperspektiven und die staatliche Devise lautet, mehr Abschiebungen durchzusetzen.
Die Mahnungen von Überlebenden wie Hannah Arendt und Zygmunt Bauman werden umso dringlicher, da durch das bürokratische Organisieren von Abschiebungen sichergestellt werden soll, wer aufgrund von rassistischen Zuschreibungen und Ideen ein Leben in Deutschland führen darf und wer sich hier nicht aufhalten darf. Der Apparat von Ausländerbehörden und Co ist damit auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet. Es zählt also nicht, sich individuell aus der Verantwortung zu stehlen, weil es in Deutschland „ein Job ist“, Menschen abzuschieben. Auch Stempel und Stift können nach wie vor indirekte Mordwaffen sein. Wer das Denken über Recht und Unrecht abgibt und stumpfe bürokratische Vorgänge abarbeitet, ist eine Gefahr für die Menschlichkeit. Wer abschiebt, ist für die Gewalt verantwortlich – egal ob mit Knebel oder Kugelschreiber. Wer rassistische Ideen umsetzt, ist Rassist_in – egal ob aus eigener Motivation heraus oder auf Anweisung. Das verantwortungslose Handeln, das achselzuckende „ich kann nichts dafür“, kann keiner_m Mitarbeiter_in einer Ausländerbehörde moralisch durchgehen gelassen werden: Ein rassistisches System wird von denen getragen, die es tagtäglich durchführen. Wer abschiebt, ist persönlich für die Konsequenzen verantwortlich.


Im Zweifel mit Repression: Brutalisierung des rassistischen Staates

Worüber die Mitarbeiter_innen in Ausländerbehörden tagtäglich entscheiden, sind keine Kraftfahrzeuge, sondern Menschen und deren Leben. Menschen sind im echten Leben keine Aktendeckel, als die sie in der nüchternen Bürokratie abgehandelt werden. Die Entscheidungen der Mitarbeiter_innen der Ausländerbehörden haben Auswirkungen auf die Lebensperspektiven dieser Menschen: wo sie wohnen können; wie und wovon sie sich finanzieren können; mit wem sie überhaupt eine Chance haben, Kontakt aufbauen zu können – bis hin zu der Frage, ob sie sich verstecken müssen oder ob sie überhaupt noch ihr Leben in ihrem gewohnten zu Hause fortsetzen können, oder in ein völlig anderes Land verschleppt werden. Kein Mensch wird diese Eingriffe in das persönliche Leben einfach nur passiv hinnehmen können. Menschen gestalten ihr Leben aktiv, statt es sich von einer Behörde diktieren zu lassen. Für diejenigen, die derart von der Bürokratie „verwaltet“ werden sollen, bedeutet das, dass sie dabei automatisch in Konflikt mit der staatlichen Ordnung kommen. Das heißt, Menschen werden sich wehren, wenn ihr Leben als Aktendeckel „verwaltet“ wird. Aktiv, im echten Leben, außerhalb der Behörde.
Vom Staat und seinen Mitarbeiter_innen wird solch eine Widerständigkeit als Störung aufgefasst. Das Menschliche, das echte Leben, irritiert den formalen Ablauf der Bürokratie. Die Ausländerbehörde schließt die Türen ab und lässt sich von privaten Sicherheitsdiensten bewachen, um sich von denjenigen abzuschotten, über deren Leben sie drinnen am Schreibtisch entscheiden.

Den Fuß in der richtigen Tür

Am 3. November 2014 verhindern in Göttingen 120 Menschen die Abschiebung einer somalischen Familie aus dem Maschmühlenweg. Die Polizei versucht angesichts der Menge vor dem Haus gar nicht erst, die Abschiebung durchzusetzen. Anschließend gehen verschiedene Unterstützer_innen gemeinsam ins Rathaus, um dort die ausstehenden Sozialleistungen für die Familie abzuholen. Die Leistungen wurden wegen der angekündigten Abschiebung nicht mehr ausgezahlt. Vor dem Flur der zuständigen Behörde sind in dem öffentlichen Gebäude verschlossene Türen. Die Unterstützer_innen drängen sich davor. Die Mitarbeiter_innen reagieren nicht auf das Anliegen. Sie wollen möglichst alle wegschicken, weil sie sich anscheinend gestört fühlen. Ein Aktivist soll seinen Fuß in der Tür stehen gehabt haben, als eine der Mitarbeiter_innen sich lieber darum kümmerte „Ordnung auf dem Flur zu schaffen“, anstatt das ausstehende Geld auszuzahlen. Eine antirassistische Unterstützungsstruktur bekommt einige Tage später einen Brief von der Stadt Göttingen: die Mitarbeiter_innen sollen sich wegen der großen Menschenmenge bedroht gefühlt haben. Der Aktivist, dessen Fuß wohl zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle platziert gewesen sein sollte, erhält eine Anzeige wegen Nötigung.

Im Zweifel reagiert der Staat also mit offener Gewalt und Repression, um das „leise“, aber gewalttätige Programm der Bürokratie durchzusetzen. Die Gewalt wird nicht nur durch die Security in der Behörde, den Rammbock oder die gepanzerten Polizist_innen in Kinderzimmern bei Abschiebungen sichtbar. Sie wird auch durch eine zunehmende Verrohung und Brutalisierung des Staates und seiner rassistischen Mittel sichtbar, die wir in den letzten Jahren vermehrt wahrnehmen können. Insgesamt werden staatliche Gewaltinstrumente immer autoritärer in Form gebracht, um die Widerständigkeit der Menschen, die sich nicht durch die formalen Abläufe der Bürokratie kontrollieren lassen wollen, brutal in die Bahnen des rassistischen Willens zu pressen. Neben den Bemühungen des deutschen Staates, mit repressiven Mitteln gegen Widerstand gegen Abschiebungen vorzugehen, wissen wir von Genoss_innen ohne deutschen Pass, dass das institutionalisierte rassistische System selbst schon eine repressive Wirkung hat. Der unsichere Aufenthaltstitel und die drohende Gefahr der nicht-Verlängerung des Aufenthalts dient dem deutschen Staat als Druckmittel, um Menschen in ihrem politischen Widerstand gegen Rassismus, Abschiebungen, Kriege, Neonazis und andere Ungerechtigkeiten zu hindern.

Rosenwinkel – Vom Rammbock aus dem Schlaf gerissen

Nachts um 4:30 Uhr fahren am 14. Oktober 2019 einige Wannen in Göttingen im Rosenwinkel vor. 30 vermummte Polizist_innen stürmen in ein Wohnhaus, um einen 18-Jährigen von seiner Familie zu trennen und in den Kosovo zu verschleppen. Die Familie lebt seit 20 Jahren in Göttingen. Einige der Kinder sind hier in der Stadt geboren. Die Göttinger_innen schafften es die Tür zu verbarrikadieren, so dass sich die Polizei selbst mit Hilfe eines Rammbocks keinen Zutritt zur Wohnung verschaffen konnte. Eine Frau, die sich in der Wohnung befand, wurde durch das martialische Vorgehen der Abschiebebeamt_innen verletzt. „Wir sind alle psychisch am Ende, das war ein Überfall, wir haben alle ein Trauma. Das war Aggressivität vom Feinsten,“ sagte einer der Betroffenen später. Die Beamt_innen brachen den Überfall ab und verschwanden, bevor solidarische Menschen ankamen, wohl wissend für welches Entsetzen ihr Auftreten bei Nachbar_innen sorgen würde. Am Morgen danach wurden bei einer Kundgebung die Splitter der zerschlagenen Tür vor die Tore des Rathauses geschmettert.

Eingebettet in einen autoritären Staatsumbau findet eine Verschiebung des Sagbaren in der Sprache und damit einhergehend eine Verschiebung der realen Gewalt im staatlichen Handeln statt. Während es vor ein paar Jahren noch Empörung ausgelöst hat, wenn Frauke Petry von der AfD davon gesprochen hat, dass an der Grenze auch auf Familien geschossen werden sollte, starb im März 2019 am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros unter anderen Muhammed Gulzar tatsächlich durch einen Schuss aus Richtung Europa. Einen Tag vorher flog die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) mit dem Hubschrauber genau über diese Grenze und dankte in der Presse Griechenland dafür, der „Schild Europas“ zu sein.

Es sind gerade Geflüchtete selbst, die immer wieder solidarisch Seite an Seite stehen, um die Abschiebung einer Person zu verhindern und dabei selbst in Kauf nehmen, in die Mühlen der rassistischen Justiz zu geraten. Weil sich der Staat mit seinen rassistischen Gesetzen eine besondere Handhabe schafft, gehen gerade diese Menschen ein besonderes Risiko ein, wenn sie sich für sich selbst oder für andere einsetzen oder sich zur Wehr setzen. Von Polizei und Behörden werden sie danach oft als „Querulant_innen“ behandelt. Als solche bekommen sie dann mehr die Gängelungen in den Behörden ab. Und ihnen droht eben nicht nur die Kriminalisierung durch das Strafrecht, sondern im Zweifel ihnen auch die Abschiebung als „straffällige Ausländer.“ droht. Bei der allgemeinen Aufrüstung der Polizei, der Verabschiedung neuer Polizeigesetze in unterschiedlichsten Bundesländern und der Verschärfung des Strafrechts an verschiedenen Stellen, sind davon auch und vor allem diejenigen, die ohnehin von rassistischen Gesetzen betroffen sind und sich mit einer rassistischen Bürokratie herum schlagen müssen, auch noch von repressiven Mitteln des Staates besonders betroffen.

Abschiebung vor dem Rathaus

Djaffars legalisierter Aufenthalt basiert seit einiger Zeit nur noch auf Kettenduldungen. Er muss regelmäßig ins Göttinger Neue Rathaus, um seine Duldung verlängern zu lassen oder zum Sozialamt zu gehen. Weil dies Pflichttermine sind, die die Stadt Geflüchteten aufzwingt, hat die Verwaltung versprochen, aus ihren Räumen keine Abschiebungen durchzuführen. Am 8. Mai 2019 muss Djaffar morgens wieder zu einem Termin ins Rathaus. Vor dem Eingang passen ihn zwei Polizisten in Zivil ab. Sie haben ein Foto von Djaffar dabei, anhand dessen sie ihn erkennen. Die Polizei nimmt ihn sofort in Gewahrsam und leitet seine Abschiebung ein. Er darf nicht einmal mehr nach Hause und seine Sachen packen, sondern wird direkt in ein Auto Richtung Frankfurter Flughafen gesetzt. Antirassistische Aktivist_innen versuchen in Frankfurt noch die Fluggesellschaft zu überzeugen, Djaffar nicht auszufliegen. Aber es ist zu spät, noch am gleichen Tag wird er nach Algerien verschleppt. Am darauf folgenden Tag findet eine wütende Demonstration vor dem Neuen Rathaus in Göttingen statt.

Nicht nur die von Abschiebung betroffenen Menschen wehren sich gegen rassistische Praxis. Auch andere schauen nicht passiv dabei zu, wie manchen Menschen in dieser Gesellschaft der Zugang zu einem guten Leben verwehrt wird. Freund_innen, Kolleg_innen, Mitschüler_innen, Mitbewohner_innen und Nachbar_innen involvieren sich in die aktiven Kämpfe um Bleiberecht und Zugänge und versuchen die Betroffenen dabei zu unterstützen. Auch Repression ist daher breit angelegt und zielt nicht nur auf die, die abgeschoben werden sollen, sondern auch auf Unterstützer_innen gegen Abschiebungen. Dies können sowohl andere Geflüchtete in ähnlichen Situationen als auch Menschen mit sicherem Aufenthaltsstatus sein. In Nürnberg versuchten 2017 Schüler_innen die Abschiebung eines Mitschülers zu verhindern. Im Anschluss daran suchte die Polizei nach einer jungen Frau per Öffentlichkeitsfahndung, weil jemand eine leere Plastikflasche geworfen haben soll. Die Abschiebegegner_innen wurden mit Gerichtsverfahren und Geldstrafen verfolgt. Ein anderes Beispiel ist Ellwangen 2018, als Geflüchtete sich gemeinsam gegen die Abholung einer Person aus ihrem Lager wehrten. Im Nachgang kam es zu Strafverfahren und Abschiebungen. Auch in Göttingen werden Abschiebegegner_innen mit Gerichtsprozessen und Strafen überzogen. So gab es nach der verhinderten Abschiebung 2014 zahlreiche Gerichtsprozesse wegen scheinbar unpolitischer Bagatelldelikte.

Neuer Weg – Hundebisse und Schlagstöcke

Am 10. April 2014 blockierten 50 Aktivist_innen in Göttingen das Treppenhaus eines Hauses im Neuen Weg, um die Abschiebung eines Göttingers nach Italien zu verhindern. Die Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) der Polizei stieg daraufhin durch das Fenster eines Kinderzimmers im Parterre ein. Sie prügelten sich mit Schlagstöcken, Tritten und Pfefferspray durch das blockierte Treppenhaus. Durch das brutale Vorgehen wurde ein Mensch bewusstlos. Vor dem Haus setzte die Polizei aggressive Hunde gegen solidarische Menschen ein. Drei Personen wurden durch Hundebisse verletzt. Dank der Solidarität konnte die Abschiebung vorerst verhindert werden. Später werden, an Stelle der prügelnden Polizei, verschiedene Aktivist_innen vor Gericht gestellt.

Auch nach dem Protest gegen die rechtswidrige Abschiebung von Willard im Jahr 2018 wurden Abschiebegegner_innen wegen politischer Delikte wie „Widerstand“ angezeigt. Kriminalisierungen durch diesen Vorwurf, sich gegen staatliche Gewalt zu wehren, sind dabei leider gängige Praxis der Polizei. Kriminalisierungen von Widerstand gegen Abschiebungen sollen einschüchtern und Widerstand brechen. Dennoch gibt es eine breite Solidarität von antifaschistischen und antirassistischen Kräften, die sich Ausgrenzung und Abschottung immer wieder entgegen stellen.

Die Verschränkung von rassistischer, staatlicher Ausgrenzung und repressiven, brutalen Mitteln eines autoritärer werdenden Staats wird nicht nur im Inneren der BRD sichtbar. Besonders offenkundig lässt sie sich, wie das Beispiel der Schüsse am Evros schon gezeigt hat, auch an der Abschottung der EU-Außengrenzen beobachten. Dort reagieren die EU-Staaten und ihre gemeinsamen Institutionen mit einer Brutalisierung und einer zunehmenden Militarisierung der Abschottung: durch brutale Push-Backs durch FRONTEX und nationale Grenzpolizei, durch die Aufrüstung von Grenzanlagen, die Entwicklung von sogenannten „smart borders“ und durch das aktive Sterben-lassen auf dem Meer – oder eben inzwischen auch durch Schüsse an den Grenzen. Die internationale, rassistische Abschottung und die Kontrolle von Bewegungsfreiheit hat dabei eine eigene, lange Vorgeschichte.

Willard Gondo – verraten und abgeschoben

Am 24. Mai 2018 hielt Pascal Comte, damals DRK-Leiter der Massenunterkunft Siekhöhe in Göttingen, Willard Gondo in dem Lager Siekhöhe unter einem Vorwand fest. Er rief die Polizei, die schon länger auf der Suche nach Willard war, um ihn abzuschieben. Sie kam und nahm ihn rechtswidrigerweise in Haft und setzte ihn für einige Stunden in der Göttinger Polizeiwache fest. 150 solidarische Menschen blockierten daraufhin für einige Stunden die Ausgänge der Wache. Trotzdem transportierte die Polizei Willard nach Berlin in einen Abschiebeknast, von wo aus er wenig später nach Oslo abgeschoben wurde. Im Nachgang hagelte es Repressionsverfahren gegen Unterstützer_innen.


 

 

 

Bottom Line